Zahlen zur Einsatzbereitschaft von Bundeswehr-Waffensystemen: Bisher offen, jetzt geheim (m. Nachtrag)

Von 128 Eurofightern 39 einsatzbereit, von 72 CH-53-Transporthubschraubern nur 16: Solche Zahlen, die in Deutschland wie international Aufmerksamkeit erregten, veröffentlichte das Verteidigungsministerium im vergangenen Jahr in seinem regelmäßigen Bericht zur Materiallage der Hauptwaffensysteme der Bundeswehr. Die öffentliche Debatte fiel nicht gut aus für die Streitkräfte, und das Ministerium hat Vorsorge getroffen, dass sich das nicht wiederholen wird: Der aktuelle Bericht zur Materiallage, im vergangenen Jahr offen zugänglich, ist nun als Geheim eingestuft und darf selbst von Bundestagsabgeordneten nur in der Geheimschutzstelle des Parlaments eingesehen werden.

Nach offizieller Darstellung des Ministeriums hat diese Einstufung nichts mit der peinlichen Debatte der vergangenen Jahre zu tun. Die Version in diesem Jahr sei viel umfangreicher und lasse nunmehr so konkrete Rückschlüsse auf die aktuellen Fähigkeiten der Bundeswehr zu, dass eine Kenntnisnahme durch Unbefugte die Sicherheitsinteressen der Bundesrepublik Deutschland schädigen würde, schrieb Generalinspekteur Eberhard Zorn am (heutigen) Montag in gleich lautenden Briefen an den Verteidigungs- und den Haushaltsausschuss des Bundestages.

Aus Zorns Schreiben:

Dieser Bericht setzt diese Unterrichtungen fort und erweitert ihren Umfang um fünf Hauptwaffensysteme des militärischen Organisationsbereiches Cyber- und Informationsraum, um weitere acht Systeme mit besonderer Relevanz für die Very High Readiness Joint Task Force (VJTF) und um eine gesonderte Betrachtung neu zugelaufener Waffensysteme.
Der Bericht für das Jahr 2018 ist im Vergleich zu den vergangenen vier Jahren umfangreicher und detaillierter. In der Gesamtschau lässt er nunmehr so konkrete Rückschlüsse auf die aktuellen Fähigkeiten der Bundeswehr zu, dass eine Kenntnisnahme durch Unbefugte die Sicherheitsinteressen der Bundesrepublik Deutschland schädigen würde. Dies gilt umso mehr vor dem Hintergrund einer verschärften sicherheitspolitischen Lage sowie dem deutschen Beitrag zur Sicherheitsvorsorge im Rahmen der Bündnisverteidigung. Die im Bericht enthaltenen Informationen sind deswegen in ihrer Gesamtheit GEHEIM einzustufen. Damit wird auch dem Schutz unserer Soldatinnen und Soldaten Rechnung getragen. Der Bericht liegt zu Ihrer Einsichtnahme in der Geheimschutzstelle des Deutschen Bundestages bereit.
Gleichzeitig wird die Transparenz und Aktualität erhöht. Denn von nun an wird der Bericht halbjährlich statt nur einmal im Jahr erscheinen – und an den Turnus des Rüstungsberichts gekoppelt.

Zum Vergleich der Umgang mit den Informationen in den vergangenen Jahren:

September 2014: Der erste Bericht zur Materiallage der Hauptwaffensysteme wird den Abgeordneten vorgelegt, eingestuft als Verschlusssache – Nur für den Dienstgebrauch (VS-NfD), also nicht Geheim. Die Ergebnisse sind aus Sicht der Parlamentarier erschreckend.

Dezember 2015: Der zweite Bericht zur Materiallage der Hauptwaffensysteme ist von der Lage her nicht viel besser; der Bericht ist ebenfalls als VS-NfD eingestuft.

November 2016: Dritter Bericht zur Materiallage der Hauptwaffensysteme, weiterhin muss der Generalinspekteur unzureichende Verfügbarkeit, mangelnde Einsatzbereitschaft, technische Probleme oder fehlende Ersatzteile melden. Erstmals wird dieser Bericht vom Verteidigungsministerium nicht nur den Abgeordneten zugänglich gemacht, sondern auch veröffentlicht.

Februar 2018 (aus dem ursprünglichen Rhythmus zum Jahresende verschoben wg. lang anhaltender Regierungsbildung): Der vierte Bericht zur Materiallage der Hauptwaffensysteme wird ebenfalls veröffentlicht. Die weiterhin geringe Einsatzbereitschaft vieler Systeme begründet das Ministerium nun auch mit der gestiegenen Zahl einsatzgleicher Verpflichtungen sowie Belastung des Materials durch mehr Übungen.

Mit dem neuen Umgang mit diesen Informationen begrenzt das Verteidigungsministerium nicht nur die Kenntnisnahme auf die Abgeordneten – es unterbindet auch die Debatte über mögliche Probleme bei einzelnen Waffensystemen. Denn die Parlamentarier dürfen über diese geheimen Angaben nicht sprechen. Damit bleibt für die Debatte in der Öffentlichkeit – vor dem Hintergrund der Forderung nach Erhöhung des Verteidigungshaushalts – unklar, inwieweit das Geld sinnvoll eingesetzt wird.

Der Generalinspekteur ist in seinem Schreiben an die Ausschüsse redlich bemüht, solche Bedenken mit  allgemeinen Zahlen zu zerstreuen:

Im Berichtsjahr 2018 lag die materielle Einsatzbereitschaft der fast zehntausend Einzelsysteme gemessen am Verfügungsbestand der Teilstreitkräfte, also abzüglich der ohnehin unvermeidbar im regelmäßigen Turnus notwendigen Wartungs- und industriellen Modernisierungszyklus befindlichen Waffensysteme, im Durchschnitt bei ca. 70 Prozent. Damit war die Bundeswehr trotz erheblicher Mehrbelastung aktuell in der Lage, ihren Auftrag im Einsatz, in einsatzgleichen Verpflichtungen und im Grundbetrieb zu erfüllen. (…)
Es ist deshalb in Anbetracht dieser erschwerenden Rahmenbedingungen als Erfolg zu werten, dass nicht nur der Abwärtstrend der materiellen Einsatzbereitschaft der Hauptwaffensysteme weitgehend gestoppt werden konnte, sondern im abgebildeten Zeitraum in Teilen sogar eine Verbesserung der materiellen Einsatzbereitschaft erreicht wurde.
Beispiel für eine besonders positive Entwicklung ist der GTK BOXER mit einem deutlichen Anstieg der durchschnittlichen materiellen Einsatzbereitschaft. (…) Auch beim A400M ist ein positiver Trend zu verzeichnen, bei gleichzeitigem Zulauf von zehn weiteren Luftfahrzeugen und der Zertifizierung als Tankflugzeug. (…)
Auch wenn der eingeschlagene Weg richtig ist, sind wir noch nicht am Ziel. So konnte etwa die materielle Einsatzbereitschaft bei den Ubooten Klasse U212A nicht zufriedenstellen. Dabei standen im ersten Halbjahr 2018 durch die Kombination von geplanten Instandsetzungen (beispielsweise Garantieliegezeiten) und materiellen Ausfällen (unvorhersehbare Schäden an den Fahrbatterien im Verantwortungsbereich der Industrie), für einen Zeitraum von fünf Monaten keine Uboote für Einsätze zur Verfügung. Durch zielgerichtete Arbeit konnte die Verfügbarkeit zum Ende des Berichtszeitraumes wieder auf drei Uboote erhöht werden.
Auch bei den im Einsatz befindlichen „Alt-Waffensystemen“ CH-53 und TORNADO konnte angesichts der sehr fordernden Einsatzverpflichtung in Afghanistan und Jordanien (mit Ersatzteil-Priorität) lediglich das niedrige Niveau des Vorjahres stabilisiert werden.
In Summe beginnen die eingeleiteten Trendwenden zu greifen. Noch sind die positiven Auswirkungen nicht in Gänze spürbar, aber perspektivisch werden sie sich absehbar auf den verlässlicheren und umfangreicheren Zulauf einsatzbereiten Materials auswirken. (…)
Aufgrund der konsequenten Bündelung von Ressourcen (u.a. Personal, Großgerät, Ersatzteile) in den Auslandseinsätzen und einsatzgleichen Verpflichtungen, verfügen die dort genutzten Waffensysteme wie auch schon in den letzten Jahren über eine weit überdurchschnittliche Einsatzbereitschaft. Durch die Fortsetzung der Trendwenden und einer ausreichenden Bereitstellung von finanziellen und damit materiellen und personellen Ressourcen gilt es, diesen hohen Grad der Einsatzbereitschaft stufenweise auf die ganze Bundeswehr zu übertragen.
[Interpunktion im Original]

Aus Sicht der Abgeordneten kam die neue Einstufung des Berichts überraschend. Erst mit Schreiben ebenfalls vom heutigen Montag hatte das Parlaments- und Kabinettsreferat der Geheimschutzstelle im Bundestag zwölf Exemplare des Berichts, Tagebuch-Nr. 408/19 – VS-GEHEIM, übersandt. Dass Informationen, die in den Vorjahren nicht eingestuft waren, jetzt geheim sind, ist erstmal erklärungsbedürftig, sagte der Grünen-Abgeordnete Tobias Lindner, der sowohl im Verteidigungs- als auch im Haushaltsausschuss sitzt. Anscheinend ist die Einsatzbereitschaft der Bundeswehr so schlecht, dass es besser die Öffentlichkeit nicht erfahren sollte. Warum ein Bericht, der seit Jahren offen war, plötzlich geheim eingestuft wird, bleibt Betriebsgeheimnis des Ministeriums.

Die Einstufung von Angaben, die in den Vorjahren vom Verteidigungsministerium öffentlich bereitgestellt wurden, ist inzwischen ein Trend. Im Februar hatte das Wehrressort öffentliche Angaben zu den Gesamtkosten großer, steuerfinanzierter Rüstungsprojekte auf eine Anfrage der Linkspartei verweigert: Die Gesamtkosten von Rüstungsprojekten als auch die rechtlichen Rahmenbedingungen für Instandsetzungen und Reparaturen in den betrachteten Rüstungsprojekten sind zur Wahrung von Sicherheitsinteressen der Bundesrepublik Deutschland als „VERSCHLUSSSACHE – NUR FÜR DEN DIENSTGEBRAUCH“ eingestuft.

Ähnlich verfährt das Ministerium auf Fragen nach Zahl und Umfang vorhandener Waffensysteme. Noch im September 2016 hatte der damalige Parlamentarische Staatssekretär Ralf Brauksiepe recht ausführlich im Bundestag Auskunft zu vorhandenen und geplanten unbemannten Systemen der Bundeswehr gegeben. Keine drei Jahre später sollen Drohnen nicht mehr öffentlich debattiert werden: Auf die Anfrage der Linkspartei in der BT-Drucksache 19/7922

Über wie viele und welche Drohnen welcher Gewichtskategorie verfügt die Bundeswehr gegenwärtig, und wo sind die Systeme im Ausland oder in Deutschland stationiert?

antwortete das Ministerium:

Auf die als „VS – Nur für den Dienstgebrauch“ eingestufte Anlage wird verwiesen.

Nachtrag: Die Oppositionsparteien FDP, Linke und Grüne haben im Verteidigungsausschuss beantragt,  die für kommenden Mittwoch vorgesehene Beratung über den Bericht zu verschieben. Hauptgrund: Das Vorgehen, das den Abgeordneten die Einsichtnahme nur in der Geheimschutzstelle erlaubt, lasse ihnen nicht genügend Zeit zur Vorbereitung auf die Beratung.

Aus dem Schreiben der Obleute Alexander Müller (FDP), Alexander Neu (Linke) und Lindner von den Grünen an den Ausschussvorsitzenden, den SPD-Abgeordneten Wolfgang Hellmich:

Da der Bericht des Bundesministeriums der Verteidigung zur materiellen Einsatzbereitschaft der Hauptwaffensysteme der Bundeswehr 2018, der in der 28. Sitzung des Verteidigungsausschusses am 13. März 2019 unter TOP 9 beraten werden soll, sehr kurzfristig vorgelegt wurde und ausschließlich auf der Geheimschutzstelle des Deutschen Bundestages einsehbar ist, halten wir eine seriöse Befassung mit dem Bericht in der kommenden Ausschusssitzung für nicht realisierbar.
Um dem grundlegenden Thema der Einsatzbereitschaft der Bundeswehr gerecht werden zu können und eine gründliche parlamentarische Befassung zu ermöglichen, beantragen wir hiermit im Namen der zuständigen Arbeitsgruppen der Fraktionen der FDP, DIE LINKE. und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN den Tagesordnungspunkt auf die nächste Ausschusssitzung zu vertagen.
Ferner bitten wir Sie, im Namen des Verteidigungsausschusses vom Bundesministerium der Verteidigung eine Begründung anzufordern, warum der Bericht als geheim eingestuft ist, während der Vorgängerbericht offen vorgelegt wurde.

(Archivbild Oktober 2018: Gepanzertes Transport-Kraftfahrzeug Boxer während der NATO-Übung Trident Juncture in Norwegen – Marco Dorow/Bundeswehr)