Neuer deutsch-französischer Vertrag: Beistandspflicht, gemeinsame Einsätze, gemeinsame Exportregeln (Nachtrag: Französ. Text)

Auf den Tag genau 56 Jahre nach der Unterzeichnung des Élysée-Vertrags, des ersten deutsch-französischen Freundschaftsvertrages nach dem 2. Weltkrieg, wollen beide Länder am 22. Januar in Aachen einen neuen Vertrag über die deutsch-französische Zusammenarbeit und Integration unterzeichnen. Ein Thema von historischer Bedeutung, sagte Regierungssprecher Steffen Seibert, nachdem das Bundeskabinett am (heutigen) Mittwoch die Unterzeichnung des Vertrages gebilligt hatte.

Die Vereinbarung, die als Aachener Vertrag in die Geschichte eingehen soll, umfasst die ganze Palette staatlicher Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Frankreich – hier ist natürlich vor allem interessant, was die Übereinkunft für die Verteidigung und die Sicherheitspolitik bedeutet. Und da setzt der neue Vertrag die Messlatte hoch an.

Im Kapitel Frieden, Sicherheit und Entwicklung, gleich das zweite nach Präambel und dem Thema Europa, bekräftigen beide Länder die gegenseitige Beistandspflicht bei einem Angriff – die haben sowohl Deutschland als auch Frankreich zwar bereits über die NATO und die Europäische Union zugesichert, sie wird aber noch einmal ausdrücklich betont: Sie leisten einander im Falle eines bewaffneten Angriffs auf ihre Hoheitsgebiete jede in ihrer Macht stehende Hilfe und Unterstützung; dies schließt militärische Mittel ein.

Interessant ist dabei, dass diese Unterstützung ausdrücklich auf die territoriale Reichweite der EU-Beistandsverpflichtung nach Artikel 42, Absatz 7 des EU-Vertrages Bezug nimmt. Der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages, der sich im November 2015 – nach den Anschlägen in Paris und der von Frankreich erbetenen Unterstützung der EU-Mitglieder – mit dieser Bestimmung befasst hatte, kam zu dem Ergebnis:

Während sich Art. 222 AEUV [Solidaritätsklausel im Vertrag über die Arbeitsweise der Union; T.W.] auf das Territorium der Mitgliedstaaten beschränkt, bezieht sich der allein an die Mitgliedstaaten gerichtete Art. 42 Abs. 7 EU-Vertrag auch auf das auswärtige Handeln und einen Angriff im Sinne von Art. 51 VN-Charta.

Dazu passt auch, dass beide Länder die Zusammenarbeit ihrer Streitkräfte nicht nur mit Blick auf eine gemeinsame Kultur, sondern auch auf gemeinsame Einsätze verstärken wollen. Das mit den gemeinsamen Einsätzen hatte der französische Präsident Emmanuel Macron als Ziel seiner European Intervention Initiative als erstes im Auge, während Deutschland da eher an die gemeinsame Kultur dachte – die im Juni unterzeichnete Absichtserklärung lässt da auch beiden Ländern ihren Spielraum. Der neue Vertrag dürfte ihn für Deutschland ein wenig enger machen, wenn es um gemeinsame Missionen geht.

Die Frage nach dem jeweiligen Spielraum in Paris und Berlin dürfte sich auch bei dem Passus des neuen Vertrages stellen, in dem von einem gemeinsamen Ansatz für Rüstungsexporte bei gemeinsamen Projekten die Rede ist – vorsorglich heißt es deshalb auch, dieser neue Ansatz solle entwickelt werden. Denn bislang sind die Exportvorstellungen in beiden Ländern mitunter nur schwer in Einklang zu bringen – was schon bei existierenden länderübergreifenden Produkten zum Beispiel des Herstellers Airbus ein Problem ist.

Spannend wird auch der geplante Deutsch-Französische Verteidigungs- und Sicherheitsrat als politisches Steuerungsorgan für diese beiderseitigen Verpflichtungen. Denn an dieser Stelle dürften auch bei identischen Zielen die unterschiedlichen politischen Kulturen aufeinander stoßen.

Das kann natürlich nur ein erster Blick auf die Vertragsbestimmungen sein (und es ist, nicht zuletzt in der Außenpolitik, noch einiges Spannende drin wie zum Beispiel die französische Unterstützung für einen ständigen Sitz Deutschlands im UN-Sicherheitsrat: Die Aufnahme der Bundesrepublik Deutschland als ständiges Mitglied des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen ist eine Priorität der deutsch- französischen Diplomatie.)

Aber für eine ausführliche Analyse wird noch genügend Gelegenheit sein; hier zum Nachlesen die Passagen zur Sicherheitspolitik aus dem Vertragstext:

Kapitel 2
Frieden, Sicherheit und Entwicklung

Artikel 3
Beide Staaten vertiefen ihre Zusammenarbeit in Angelegenheiten der Außenpolitik, der Verteidigung, der äußeren und inneren Sicherheit und der Entwicklung und wirken zugleich auf eine Stärkung der Fähigkeit Europas hin, eigenständig zu handeln. Sie konsultieren einander mit dem Ziel, gemeinsame Standpunkte bei allen wichtigen Entscheidungen festzulegen, die ihre gemeinsamen Interessen berühren, und, wann immer möglich, gemeinsam zu handeln.

Artikel 4
(1) In Anbetracht ihrer Verpflichtungen nach Artikel 5 des Nordatlantikvertrags vom 4. April 1949 und nach Artikel 42 Absatz 7 des Vertrags vom 7. Februar 1992 über die Europäische Union, geändert durch den Vertrag von Lissabon vom 13. Dezember 2007 zur Änderung des Vertrags über die Europäische Union und des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft, nähern die beiden Staaten, überzeugt davon, dass ihre Sicherheitsinteressen untrennbar miteinander verbunden sind, ihre sicherheits- und verteidigungspolitischen Zielsetzungen und Strategien einander zunehmend an und stärken so auch die Systeme kollektiver Sicherheit, denen sie angehören. Sie leisten einander im Falle eines bewaffneten Angriffs auf ihre Hoheitsgebiete jede in ihrer Macht stehende Hilfe und Unterstützung; dies schließt militärische Mittel ein. Die territoriale Reichweite nach Satz 2 entspricht derjenigen nach Artikel 42 Absatz 7 des Vertrags über die Europäische Union.
(2) Im Einklang mit ihren jeweiligen innerstaatlichen Vorschriften handeln beide Staaten, wann immer möglich, gemeinsam, um Frieden und Sicherheit zu wahren. Sie entwickeln Europas Leistungsfähigkeit, Kohärenz und Glaubwürdigkeit im militärischen Bereich weiter. Hierdurch verpflichten sie sich, die Handlungsfähigkeit Europas zu stärken und gemeinsam zu investieren, um Lücken bei europäischen Fähigkeiten zu schließen und damit die Europäische Union und die Nordatlantische Allianz zu stärken.
(3) Beide Staaten verpflichten sich, die Zusammenarbeit zwischen ihren Streitkräften mit Blick auf eine gemeinsame Kultur und gemeinsame Einsätze weiter zu verstärken. Sie intensivieren die Erarbeitung gemeinsamer Verteidigungsprogramme und deren Ausweitung auf Partner. Hierdurch beabsichtigen sie, die Wettbewerbsfähigkeit und Konsolidierung der europäischen verteidigungstechnologischen und -industriellen Basis zu fördern. Sie unterstützen die engstmögliche Zusammenarbeit zwischen ihren Verteidigungsindustrien auf der Grundlage gegenseitigen Vertrauens. Beide Staaten werden bei gemeinsamen Projekten einen gemeinsamen Ansatz für Rüstungsexporte entwickeln.
(4) Beide Staaten richten den Deutsch-Französischen Verteidigungs- und Sicherheitsrat als politisches Steuerungsorgan für diese beiderseitigen Verpflichtungen ein. Dieser Rat wird regelmäßig auf höchster Ebene zusammentreten.

Fürs Archiv außerdem die Aussagen dazu in der Bundespressekonferenz von Regierungssprecher Steffen Seibert und Maria Adebahr, der Sprecherin des Auswärtigen Amtes:

Seibert: Das nächste Thema – man könnte eigentlich sagen, es ist eines von historischer Bedeutung: Das Bundeskabinett hat heute der Unterzeichnung des Vertrags zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik über die deutsch-französische Zusammenarbeit und Integration zugestimmt. Mit diesem Vertrag werden unsere beiden Länder Deutschland und Frankreich noch enger zusammenrücken. Der Vertrag etabliert eine neue Qualität der Zusammenarbeit. Deutschland und Frankreich wollen sich den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts gemeinsam stellen. Sie wollen sich gemeinsam wappnen, und zwar im Bereich sowohl der Europapolitik als auch der Außenpolitik, der Sicherheitspolitik, der Gesellschafts-, der Umwelt-, der Energie- und der Wirtschaftspolitik. Das alles ist von diesem Vertrag betroffen. Die Prämisse ist: Wir treten gemeinsam für ein starkes Europa ein. Die deutsch-französische Zusammenarbeit, wie sie dieser Vertrag vertieft und intensiviert, stellt sich also ausdrücklich in den Dienst des europäischen Projekts.

Wir haben ja gestern schon eine Pressemitteilung dazu herausgegeben, die Sie vielleicht noch in Erinnerung haben. Dieser neue deutsch-französische Vertrag wird am 22. Januar in Aachen im Krönungssaal des Aachener Rathauses unterzeichnet werden, also exakt 56 Jahre nach der Unterzeichnung des Élysée-Vertrags. Er wird dann auch Aachener Vertrag heißen.

Was wichtig ist und man vielleicht noch dazu sagen sollte: Der neue Vertrag tritt neben den Élysée-Vertrag. Der Élysée-Vertrag, der seine volle Geltung behält, war 1963 die historische Aussöhnung – das stand im Mittelpunkt -, die Begegnung beider Völker. Das war alles andere als eine Selbstverständlichkeit. Deutschland und Frankreich haben damals nach Jahrhunderten der Rivalität, der blutigen Kriege und Konflikte eine Aussöhnungsbotschaft ausgesandt und wirklich das Fundament für unsere enge bilaterale Zusammenarbeit und für die weitere europäische Integration gegeben. Dem wird nun der neue Aachener Vertrag an die Seite gestellt.

Er wird nun dem Bundestag und dem Bundesrat zugeleitet, und die Unterzeichnung wird, wie gesagt, in einer feierlichen Zeremonie am 22. Januar geschehen.
(…)

Frage: Herr Seibert, ich habe eine Frage zum Inhalt des neuen Aachener Vertrags: Enthält der neue Aachener Vertrag eine These dazu, dass Deutschland und Frankreich jetzt gemeinsam einen ständigen deutschen Sitz im UN-Sicherheitsrat anstreben?

StS Seibert: Deutschland hat ja nun seit dem 1. Januar – darüber freuen wir uns, und das werden wir sehr aktiv nutzen – für zwei Jahre einen nichtständigen Sitz im Sicherheitsrat inne. Frankreich ist eines der ständigen Sicherheitsratsmitglieder. Im Moment zeichnet sich innerhalb der Uno nicht ab, dass sich daran etwas ändert.

Wie sich der Vertrag in dieser Frage genau äußert, müsste ich, ehrlich gesagt, nachsehen. Das kann ich jetzt nicht aus dem Hut zaubern.

Frage : Können Sie uns sagen, wer den Vertrag konkret ausgehandelt hat? Wie viele Treffen gab es zwischen der deutschen und der französischen Seite?

Adebahr: Der Vertrag wurde zwischen den Regierungen beider Länder ausgehandelt. Ich glaube, es gab in ganz enger Zusammenarbeit zwischen dem Auswärtigen Amt und dem Kanzleramt vielfältige Treffen. In Deutschland wurden auch die Länder mit einbezogen. Es wurde auch der Bundestag mit einbezogen. Das war ein ganzes Netz eines intensiven Arbeitsprogramms, das sich über ein Jahr hingezogen hat.

Zusatzfrage : Wer war denn federführend?

Adebahr: Innerhalb der Bundesregierung hat das das Auswärtige Amt gemeinsam mit dem Kanzleramt gemacht.

StS Seibert: Ich kann vielleicht der Kollegin – der, glaube ich, russischen Journalistin, die gerade gefragt hatte – noch sagen: Der Vertrag sieht vor, dass wir uns als Deutschland und Frankreich in allen Gremien der Vereinten Nationen noch stärker und noch enger abstimmen und dass wir an einer gemeinsamen, starken europäischen Stimme im UN-Sicherheitsrat arbeiten.

Frage: Heißt das, Deutschland strebt einen ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat an, und Frankreich unterstützt Deutschland in diesem Bestreben?

StS Seibert: Es heißt das, was ich eben gesagt habe: Wir stimmen uns in allen Gremien noch enger ab, und wir arbeiten für eine starke europäische Stimme im UN-Sicherheitsrat.

Nachtrag 18. Januar: Der Vertragstext ist, so weit ich das sehen kann, immer noch nicht offiziell verfügbar. Der Bloggerkollege von Bruxelles2 hat die französische Fassung des Textes veröffentlicht:

Le texte du traité franco-allemand d’Aix La Chapelle signé le 22 janvier 2019

(Archivbild: Die Flaggen von Deutschland, der EU und Frankreich beim deutsch-französischen Ministerrat in Paris im Februar 2014 –  Michael Gottschalk/photothek.net)