Reden wir über Tradition (leider über alles)

Die Bundeswehr hat am (heutigen) Donnerstag die Reihe ihrer Workshops auf dem Weg zu einem neuen Traditionserlass fortgesetzt – Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen hatte ja unter dem Eindruck des Falles Franco A., aber auch vor dem Hintergrund des Fundes von Wehrmachts-Gedenkstücken in Kasernen in der entbrannten Debatte über das Traditionsverständnis der Streitkräfte eine Überarbeitung des seit 1982 geltenden Traditionserlasses angekündigt (die Roadmap für die diversen Workshops hier).

Und eigentlich hätte es bei den Vorträgen und Diskussionsrunden am Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr (ZMSBw) in Potsdam um die Geschichte und mögliche Traditionslinien eben vor NS-Zeit und Wehrmacht gehen sollen. Der Titel war eigentlich unmissverständlich: Kostbares Erbe oder drückende Last der Vergangenheit? Funktion und Bedeutung der älteren deutschen Militärgeschichte für die Tradition der Bundeswehr

Um es vorweg zu nehmen: Es ging eben nicht nur um die ältere deutsche Militärgeschichte, also nicht wie von der Ministerin schon mal skizziert um die Ereignisse seit den Befreiungskriegen gegen Napoleon oder die preußischen Militär-Reformer oder gar die Folgen der Frankfurter Nationalversammlung für deutsche Streitkräfte. Genauer: darum ging es nur am Rande, denn irgendwie wurde es dann doch wieder zu einer Debatte über jegliche deutsche Militärgeschichte und -Tradition, vor der Gründung der Bundeswehr und danach, und mit einem nicht unerheblichen Teil Debatte über die Wehrmacht und ihre Auswirkungen auf aktuell gefühlte oder gelebte Tradition.

Die Vorträge habe ich im Originalton hier dokumentiert; ein paar Beobachtungen und Anmerkungen:

Der Berliner Politikprofessor Herfried Münkler (den O-Ton habe ich leider aus technischen Gründen nicht) verwies einleitend darauf, dass auch der Rückgriff für die Reformer Anfang des 19. Jahrhunderts nicht unproblematisch seien – Scharnhorst, Gneisenau oder Clausewitz seien sicherlich nicht Demokraten in unserem heutigen Sinne gewesen und die Traditionslinien aus dem 19. Jahrhundert eben auch nicht unproblematisch. Der leitende Wissenschaftler des ZMSBw, Michael Epkenhans, brachte das auf die Formel: Ihr nationalistisches Gedankengut, ja der regelrechte Franzosen- und bei Gneisenau später Polenhass sind darüber hinaus ausdrücklich nicht traditionswürdig. Alle Reformer bedürfen deshalb der Kontextualisierung.

Epkenhans stellte darüber hinaus auch die Orientierung an Soldaten des 1. Weltkrieges infrage – inbesondere bei Traditionsnamen, die sich bei der Luftwaffe finden: Klassische militärische Leistungen und Tugenden, Tapferkeit und Ritterlichkeit oder das berühmte Feldherrngenie von Soldaten vor 1933 reichen allein nicht aus, um … traditionsbildend zu sein. … In der Konsequenz bedeutet dies, dass es für eine Hindenburg-Kaserne heute ebensowenig einen Platz gibt wie für eine Emmich-Cambrai-Kaserne oder die nach Immelmann, Richthofen oder Boelcke benannten Traditionsgeschwader der Luftwaffe. (Epkenhans kompletter Vortrag ist auf der Dokumentationsseite nachzulesen.)

Das dürfte nun vermutlich  nicht bedeuten, dass die Taktischen Luftwaffengeschwader 51 31, 71 und 51 (wie zuvor schon 74) demnächst ihren Traditionsnamen verlieren. Aber es zeigte sich im  Verlauf der Debatte ein, sagen wir, Disconnect zwischen den Wissenschaftlern und den Brigadegeneralen, die sich quasi als Vertreter der Truppe äußerten. Vor allem Kai Rohrschneider, der deutsche Stabschef bei der U.S. Army Europe und Panzeroffizier, verwies auf die grundsätzlich andere Wahrnehmung von Tradition in der Truppe als in der Öffentlichkeit (und wohl auch in der Wissenschaft).

Auch wenn der eigentliche Begriff der Tradition für die Soldaten eher sperrig sei – die Truppe habe eben ein besonderes, berufsspezifisches Verhältnis zur Militärgeschichte, und das führe zu einer Dynamik, die Soldaten von Historikern unterscheide. Soldaten, so eine von Rohrschneiders Thesen, suchten in der Tradition vor allem nach Vorbildern für das Gefecht, ihre wesentliche Aufgabe – und nähmen Geschichte deshalb anders wahr als die Gesellschaft.

Zugleich zeigte sich der Brigadegeneral ausdrücklich offen für eine Ausweitung des Traditionsspektrums – sowohl vor 1933 als auch nach 1956, nach Aufstellung der Bundeswehr. Dabei müssten sich alle von der obsessiven Betrachtung der Jahre 1933 bis 1945 lösen und nicht so tun, als wären 1.000 Jahre wirklich 1.000 Jahre gewesen. Vor allem aber: Symbole brauche die Truppe, um sich daran festzuhalten – und müsse dafür eine neue Formensprache finden.

Rohrschneiders Ansatz spielte auch in der Diskussion eine Rolle (die unter Chatham House Rules stattfand, aus der ich also berichten kann, aber ohne die Aussagen den Personen zuzuschreiben). Da wurde die ausdrückliche Warnung laut, Verbänden oder Einheiten ihre (Traditions)Namen einfach wegzunehmen – und schon gar nicht per Anweisung von oben: Der Name wird als Teil der Identität empfunden.

An der Stelle dürfte langfristig der Disconnect der Wissenschaftler (und der Gesellschaft?) und den Soldaten in eine schwierige Auseinandersetzung münden. Denn die einen sehen in bestimmten Traditionslinien und -Namen nicht die Verehrung von – zumindest teilweise auch fragwürdigen – militärischen Vorbildern, sondern eben einen wichtigen Bestandteil ihres Berufsverständnisses. Und die anderen argumentieren, dass es oft genug für die Auswahl dieser Traditionslinien und -Namen fragwürdige Kriterien gebe, die sie eben nicht traditionswürdig machten.

Der Wissenschaftler Epkenhans nannte in diesem Zusammenhang (auch nach der Diskussion im Gespräch mit mir) das Beispiel Helmut Lent: Wenn der erfolgreichste Nachtjäger der Luftwaffe während des Zweiten Weltkrieges as Vorbild und Namensgeber gewählt werde, bedeute das nichts anderes, als die Zahl seiner Abschüsse zum Maßstab für diese Vorbildfunktion zu nehmen. Ob das ausreiche? Ich meine nein.

Mit anderen Worten: Die Debatte über das, was künftig die Tradition der Bundeswehr ausmacht, wird auch mit dem für November (dann an der Bundesakademie für Sicherheitspolitik in Berlin) geplanten vierten und abschließenden Workshop dazu noch lange nicht beendet sein. Und vermutlich auch nicht mit der Inkraftsetzung eines neuen Traditionserlasses – wann immer der auch, angesichts der absehbar langwierigen Bildung einer neuen Koalitionsregierung, tatsächlich kommen mag.

Nachtrag: Das Deutsche Heer hat dazu ein Eigen-Interview mit Heeresinspekteur Jörg Vollmer veröffentlicht. Es steht hier auf der Webseite des Heeres; für das dauerhafte Auffinden und fürs Archiv hier die Seite als pdf-Datei:

20171012_Tradition_InspH_Vollmer_Interview

(Foto: Generalinspekteur Volker Wieker bei einem Diskussionsbeitrag während des Workshops)