Fürs G36-Archiv: Chaos im (Archiv)Keller

20140128_hochgebirgszug_g36

Spätestens am kommenden Mittwoch, wenn sich der Verteidigungsausschuss des Bundestages einen ganzen Nachmittag gezielt mit dem Thema befasst, wird der Streit um das Sturmgewehr G36 wieder öffentliche Aufmerksamkeit bekommen. Zur Vorbereitung der Debatte deshalb ein Hinweis auf die Unterlagen, die das Verteidigungsministerium Ende vergangener Woche den Abgeordneten zukommen ließ. Dabei ging es um die Entscheidung vor mehr als 20 Jahren für die Beschaffung des G36 als Standardwaffe der Bundeswehr, und diese zwei Jahrzehnte sind auch das Problem:

Aus der Erklärung der Truppenverwendbarkeit vom 17. Juni 1994 geht hervor, dass der taktische Anteil des Truppenversuchs unter Federführung der Infanterieschule durchgeführt wurde. Truppengattungsspezifische Besonderheiten wurden von der Kampftruppenschule, der Luftlande-/Lufttransportschule, der Gebirgs- und Winterkampfschule sowie der internationalen Fernspähschule erprobt. Nach Ablauf der Aufbewahrungsfristen und diversen Umgliederungen liegen die Unterlagen zu diesen Vorgängen den einzelnen Organisationseinheiten nicht mehr vollständig vor.

schrieb das Ministerium den Parlamentariern. Das mit den Aufbewahrungsfristen überrascht mich als Laien ein wenig – ich hätte gedacht, dass bei einem Waffensystem die relevanten Dokumente zumindest bis zum Ablauf der projektierten Nutzungsdauer aufgehoben würden; das wäre nach der Nutzungsgenehmigung 1995 bis in dieses Jahr gewesen.

Aber immerhin lässt sich ein Teil des Entscheidungsablaufs noch rekonstruieren. Das Ministerium fand die Erklärung der Truppenverwendbarkeit des Generals der Infanterie (wenn auch ohne den zu Grunde liegenden Bericht der Infanterieschule), den Bericht über den Truppenversuch der Gebirgs- und Winterkampfschule (komplett), den anlässlich des Truppenversuches der Kampftruppenschule 2 erarbeiteten Vorschlag zum Anschießen und Justieren des G36, LMG36 und des HK50 und die Prüfergebnisse Truppenversuch zu G36, logistischer Anteil. Außerdem einen Vermerk über eine Besprechung in der Rüstungsabteilung des Verteidigungsministeriums im August 1994.

Der Vorschlag zum Anschießen und Justieren und der logistische Anteil der Prüfergebnisse sind da eher weniger von Interesse. Und die Erklärung der Truppenverwendbarkeit durch den General der Infanterie ist nicht viel mehr als die Aussage, dass das G36 für den Gebrauch in der Bundeswehr geeignet ist, auf der Grundlage von Untersuchungen der Kampftruppenschule1/Infanterieschule, Kampftruppenschule2/Panzertruppenschule, Luftlande- und Lufttransportschule, Gebirgs- und Winterkampfschule sowie Internationale Fernspähschule:

Auf der Grundlage der Truppenversuchsberichte kann festgestellt werden, daß die Forderungen an die Waffe erfüllt werden. Unter Berücksichtigung des in der Besprechung vom 7.6.1994 festgelegten Konstruktionsstandes ist das Gewehr G36 für die Verwendung in der Truppe
– geeignet -.

(Hervorhebung im Original, T.W.)

Nun fehlen, wie gesagt, leider die meisten Truppenversuchsberichte. Bis auf einen, nämlich den der Gebirgs- und Winterkampfschule. Und das ist doch interessant, denn in Medienmeldungen ist immer wieder davon die Rede, dass gerade diese Schule das G36 als ungeeignet befunden habe und ein österreichisches Konkurrenzprodukt für besser geeignet eingestuft worden sei.

In der Tat, am 23. März 1994 meldete die Gebirgs- und Winterkampfschule, Spezialstab ATV, unter dem Aktenzeichen 72-25-13 an das Heeresamt in Köln zum G36, damals mit der Modellbezeichnung HK50 des Herstellers Heckler&Koch:

Für das Gewehr HK50 und das Maschinengewehr HK50 – LMG – kann die Truppenverwendbarkeit aus Sicht der Gebirgs- und Winterkampfschule nicht erklärt werden.
Gewehr Steyr AUG und Maschinengewehr Steyr AUG -LMG – sind truppenverwendbar.

Allerdings wird meist nicht so detailliert erläutert, warum die Gebirgsjäger zu dieser Einschätzung kamen. Einige wesentliche Kritikpunkte aus dem Bericht:

Die Waffen HK50 können mit Handschuhen nur eingeschränkt oder gar nicht bedient werden.
Beim Gewehr lässt sich der Ladehebel nicht, und der Abzug kaum bedienen. Beim MG kann zwar durchgeladen werden, der Abzug kann mit Fingerhandschuhen nur mühsam, mit Fausthandschuhen nicht betätigt werden (Abzugbügel zu eng ausgeführt).
Sie sind daher für den Einsatz unter winterlichen Bedingungen nicht geeignet.
(…)
Das Magazin des HK 50 fällt im Gefechtsdienst ständig aus dem Magazinschacht – die Feder am Magazinhalter ist zu schwach. Dies ist nicht nur ärgerlich, sondern beeinträchtigt die Einsatzbereitschaft erheblich.
(…)Die optischen Visiereinrichtungen der Waffen zeigten insgesamt nur eine schwache Tendenz zum Beschlagen. Es fiel jedoch auf, daß die beschneite oder beschlagene Optik (Ein- und Ausblicke) vor allem des HK 50, wegen schlechter Zugänglichkeit, nur schwer von Schnee und Eis zu befreien waren.
(…)
Die Konstruktion des Verschlußträgers mit Ladehebel bei Gewehr HK 50 und MG HK 50 ist in beiden Versionen unbrauchbar. Beim Gewehr läßt er sich mit Handschuhen nicht bedienen.
Beim MG besteht die Gefährdung der Hand durch den ungeschützt vor- und zurückgleitenden Verschlußträger. Der Verschluß kann nur dann in offener Stellung gehalten werden, wenn ein leeres Magazin beim Zurückziehen eingeführt ist. Ist der Verschluß dann offen arretiert und das Magazin z.B. zum Entölen der Waffe, zum Beseitigen einer Hemmung oder zur Kontrolle des Ladezustandes entnommen, genügt schon ein leichter Schlag auf die Schulterstütze und der Verschluß schlägt nach vorne. Große Verletzungsgefahr!
(…)
Ergebnis 1. Teilversuch:
Das Gewehr und Maschinengewehr HK 50 ist in der Zieleinrichtung, der Konstruktion des Verschlußträgers mit Ladehebel und dem Abzugbügel nicht ausgereift. Sie sind für einen Einsatz unter winterlichen Bedingungen daher nicht brauchbar.

Also eine vernichtende Kritik. Die allerdings nur Bereiche betrifft, die mit der aktuellen Kritik am G36 nichts zu tun haben – denn was in diesem Jahr auch von Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen bemängelt wurde, war fehlende Treffsicherheit. Und was meint die Gebirgs- und Winterkampfschule dazu in ihrer zusammenfassenden Bewertung?

Die im Versuch vorgestellten Waffen sind im Vergleich zu den eingeführten Waffen G 3 und MG 3 deutlich leichter und kürzer. Der Rückstoß ist erheblich verringert. Die Trefferleistung ist besser. Sie sind in der Funktion zuverlässig. (…)
Gewehr und Maschinengewehr HK 50 sind sehr leichte, bei angeklappter Schulterstütze sehr kurze Waffen.Die Treffleistung auf Entfernungen auch über >250 m ist hervorragend.
In diese Waffe sind eine Zahl guter und fortschrittlicher Ideen eingebracht wie z.B.
– konsequente Gewichtsreduzierung und Pflegeleichtigkeit durch Verwendung von Kunststoffen,
– optisches Visier mit sehr gutem Fadenkreuz im Absehen und Entfernungsmeßkurve,- Lichtpunktvisier als HKV für schnelle Schüsse,- vielseitige Tragegurtsysteme,
– Ladehebel und Sicherung durch Links- und Rechtsschützen gleichermaßen gut zu bedienen, dadurch für Links- und Rechtsschützen und für Wechselanschläge ohne Einschränkung geeignet.
Leider machten die vorgestellten Waffen der Firma Heckler & Koch insgesamt einen sehr unfertigen, prototypenhaften Eindruck. So z.B. die unterschiedliche Gestaltung des Tragebügels, das aufgesetzte Hauptkampfvisier (Lichtpunktvisier) mit seinem winzigen, undichten Schalter und den teueren Spezialbatterien.
Für den Truppengebrauch jedoch gänzlich untauglich stellt sich die Konstruktion des Verschlußträgers, des Ladehebels, des Abzugsbügels und des Magazinhalters dar.
Diese Teile sind nicht ausgereift. Sie bedürfen einer grundlegenden Neukonstruktion.
Gewehr und MG HK 50 – LMG – sind daher nicht truppenverwendbar.

Nun sei dahingestellt, ob die Gebirgsjäger damals Vorserienmodelle hatten, bei denen diese Kritikpunkte später berücksichtigt und geändert wurden. Interessant ist die Aussage, dass die Gebirgs- und Winterkampfschule beim G36 so ziemlich alles bemängelte – außer der Treffleistung.

Der Favorit der Gebirgsjäger war damals das oben bereits erwähnte AUG der österreichischen Firma Steyr-Mannlicher. Das kam allerdings wohl vor allem deswegen nicht zum Zuge, weil die Kampftruppenschule dagegen war. Der entsprechende Bericht ist nicht mehr da, aber in der Besprechung der Rüstungsabteilung im August 1994 wurde festgehalten:

Die Funktions- und Betriebssicherheit wurde für das HK 50 und für das AUG am 18.05.94 erklärt; die Truppenverwendbarkeit hat der General der Infanterie am 17.06.94 aufrund [sic] der Empfehlung der KTS II, Munster (Truppenversuchsberichts G 36/LMG 36, Teil Panzergrenadiere, ohne Datum), trotz der positiven Eigenschafter aller erprobten Waffen, wegen der im Truppenversuch erkannten Sicherheitsrisiken beim Einsatz des AUG vom SPZ Marder auschließlich für das HK 50 (Gewehr und LMG) erklärt.

(Foto: Soldaten aus dem Hochgebirgszug (HGZ) des Gebirgsjägerbataillons 231 aus Bad Reichenhall üben Winterkampf im schwierigen Gelände. Die Gebirgsjäger sichern während einer Marschpause das Gelände in alle Richtungen mit G36 – Bundeswehr/photothek/Koehler)