‚Führung aus der Mitte‘ und klar gegen Waffen für die Ukraine: vdL auf der SiKo

vdL_MSC_20150206

Zur schnellen Orientierung & Dokumentation hier der Redetext von Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen zur Eröffnung der Münchner Sicherheitskonferenz. Die Ministerin hat sich weitestgehend an das Manuskript gehalten – mit einer wesentlichen Ausnahme: Die Passage mit der Ablehnung von Waffenlieferungen an die Ukraine hat sie noch mal verschärft und zugespitzt. „Sind wir wirklich sicher, dass wir die Situation der Menschen in der Ukraine verbessern, indem wir dorthin Waffen liefern?“, war ihre Frage dazu. Und die Überlegung, ob damit nicht erst Russland der Vorwand geliefert werde, offen in den Konflikt einzugreifen.

(Interessante Randbeobachtung: vor einem Jahr hatte von der Leyen ihre Rede auf Englisch vorgetragen; in diesem Jahr sprach sie auf Deutsch.)

Der (vorab veröffentlichte) Redetext, den Umbruch bitte ich zu entschuldigen. (Wenn es eine Abschrift der Rede anhand der Aufzeichnung geben sollte, stelle ich die hier ein.):

Führung aus der Mitte

Herr Botschafter Ischinger, Sie haben es wieder einmal geschafft,
für die Sicherheitskonferenz ein eindrucksvolles Programm zusammenzustellen, das beides gleichermaßen leistet:
Das wichtige Gespräch über die brisantesten aktuellen Krisen, wie auch das Nachdenken über strategische Entwicklungen und Ziele.
Sie haben in der Vorbereitung dieser Konferenz ein wirklich lesens- und
nachdenkenswertes Papier herausgegeben: Den „Munich Security Report 2015“.
Sie haben in der Vorbereitung dieser Konferenz ein wirklich lesens- und
nachdenkenswertes Papier herausgegeben: Den „Munich Security Report 2015“.
Gleich einer der ersten Artikel stellt die durchaus provokante Frage: „Is Germany
ready to lead?“ Meine Antwort: Ja, wir sind bereit. Fragt man die deutsche
Bevölkerung, ist die Antwort zurückhaltend. 62 Prozent der befragten Deutschen
geben an, Deutschland solle sich nicht noch mehr in internationalen Krisen
engagieren – nur 34 Prozent sprechen sich dafür aus. Aus der Perspektive des
Auslands sieht dies schnell nach künstlicher „Selbstverzwergung“ aus. Nach einem
Erwachsenen, der nicht wahrhaben will, dass der gewachsenen Kraft und Reife auch
ein höheres Maß an Verantwortung entspricht. Ist das Gefühl der deutschen
Bevölkerung deswegen aus der Zeit gefallen? Nein, auch weil die leidvolle deutsche
Geschichte des 20. Jahrhunderts heute zur DNA unseres Volkes gehört. Die
politisch-moralische Bankrotterklärung unseres Landes ist erst 70 Jahre her. Und sie
wird uns mit ihrer Düsterkeit immer begleiten und eine Spur nachdenklicher machen.
Das „think twice“ ist unsere Lehre aus unserer Geschichte.
Aber unsere moralische Verpflichtung ist es auch, mit aller Kraft für die Verteidigung
der universellen Menschenrechte einzustehen. Gerade vor dem Hintergrund unserer
Geschichte kann Gleichgültigkeit keine Option sein. So müssen wir bei uns in
Deutschland unermüdlich erklären und begründen, dass das Einstehen für Einigkeit
und Recht und Freiheit heute nicht mehr alleine eine nach innen gerichtete nationale3
Aufgabe ist. Und wir müssen erklären, dass der weltweite, anstrengende, oft
schmerzhafte und auch harte Einsatz für Menschenrechte, Demokratie und Freiheit
nicht nur den anderen überlassen werden kann, sondern genauso auch uns angeht.
Das schreiben uns die unermesslichen Verbrechen von Ruanda und Srebrenica
ebenso ins Stammbuch wie der versuchte Genozid an den Jesiden. „Gleichgültigkeit
ist und bleibt keine Option“. Der Tenor der Münchner Sicherheitskonferenz im letzten
Jahr war: Deutschland ist bereit, mehr Verantwortung zu übernehmen, sich
einzubringen, zu handeln.
Was bedeutet das konkret? Mehr Verantwortung nur auf diplomatischem Parkett?
Oder in der Entwicklungszusammenarbeit? Oder auch in harten militärischen
Aktionen?
Wenn ich anfangs gesagt habe, Germany is ready to lead, dann ist die Kernfrage
doch: Um welche Art von Führung geht es heute? Verstehen wir alle dasselbe unter
dem Wort Führung? Ein Wort, das im Deutschen einen so anderen Klang hat als
seine englische Übersetzung leadership? Verstehen wir unter Führung das Führen
mit der Pickelhaube? Nein! Führen in der Form, dass Deutschland das Lenkrad an
sich reißt und die Richtung vorgibt? Nein! Führung, indem Deutschland voranstürmt,
weil es glaubt, Nummer eins unter Europäern sein zu müssen? Nein! Das alles
entspricht nicht der politischen Kultur Deutschlands im 21. Jahrhundert.
Ich möchte sagen, zu welcher Art Führung Deutschland sehr wohl bereit ist: Es ist
die Führung aus der Mitte. Dies ist der Anspruch, den unsere Partner an uns haben
– und dies sollte auch unser eigener Anspruch an uns selbst sein. Führen aus der
Mitte bedeutet, selbst das Beste an Ressourcen und Fähigkeiten in die Bündnisse
und Partnerschaften einzubringen. Mehr als für andere gilt das für Deutschland.
Wohl jeder hier im Saal kennt das Zitat des damaligen polnischen Außenministers
und jetzigen Parlamentspräsidenten Radoslaw Sikorski, er fürchte sich weniger vor
einem starken Deutschland als vor einem schwachen Deutschland. Viele
Kommentatoren haben das als Wunsch oder gar Aufforderung interpretiert,
Deutschland möge endlich wieder eine dominantere Rolle übernehmen. Aber wir
verstehen darunter nicht Dominanz gegenüber unseren Nachbarn oder eine Politik
über deren Köpfe hinweg. Im Gegenteil. Führen aus der Mitte, das geht nicht allein.
Wir verstehen Führen aus der Mitte so, dass dadurch andere Partner mit weniger
Ressourcen ihre unverzichtbaren Beiträge auf Augenhöhe einbringen können. Und in4
dieser Logik verzahnen wir unsere Fähigkeiten. Deswegen unterstellen sich
Deutschland
und
die
Niederlande
gegenseitig
Luftlandetruppen-
und
Panzereinheiten. Deswegen gibt es die Deutsch-Französische-Brigade. Und
deswegen vertiefen wir mit Polen die Kooperation unserer Land- und Seestreitkräfte.
Wir waren vor 70 Jahren Todfeinde! Heute verflechten wir unsere Streitkräfte und
vertrauen uns in einem Maße, das seinesgleichen sucht.
Führen aus der Mitte – ja, das kann auch bedeuten, gemeinsam zu kämpfen. Aber
es ist weit mehr als das. Es heißt auch, andere zu ertüchtigen, in ihrer Region selbst
für Sicherheit zu sorgen. In dieser Logik haben wir im vergangenen Jahr gehandelt,
von Mali über Afghanistan, den Libanon, Somalia bis zum Irak.
Führen aus der Mitte heißt: die unbedingte Bereitschaft, gemeinsam zu analysieren
und gemeinsam zu entscheiden. Keine Nation allein – nicht mal die größte – hat die
Mittel, Konflikte auf Dauer erfolgreich zu lösen. Auch wenn Entscheidungsfindungen
in Partnerschaften zwischen gleichberechtigten Staaten oftmals nur recht mühsam
und langsam erscheinen mögen – diese Entscheidungen beruhen auf einer breiteren
Legitimationsbasis und sie erweisen sich im Nachhinein meist als klüger.
Außenminister Kerry hat vergangene Woche einen pointierten Namensartikel in einer
deutschen Tageszeitung veröffentlicht. In ihm beschreibt er, dass angesichts der
neuen Bedrohungen, die sich nicht mehr an Linien auf der Landkarte orientieren,
Nachbarschaft überall sei. Und weiter, Zitat: „Wir haben eine Welt hinter uns
gelassen, in der die Macht in Hierarchien beheimatet war. Nun begeben wir uns in
eine Welt, wo Macht in Netzwerken liegt.“
Derzeit erleben wir Herausforderungen, die so vielschichtig sind, dass es sogar
gleich mehrerer Bündnisse oder ganz neuer Partnerschaften bedarf, um sie in den
Griff zu bekommen. Siehe die Russland-Ukraine-Krise: Sie fordert NATO und EU und
OSZE. Alle drei Organisationen können ihren spezifischen Mehrwert unter Beweis
stellen. Die NATO, weil das Vorgehen des Kreml das gesamte Bündnis bedroht und
gerade die östlichen Mitglieder Sicherheit brauchen. Und die OSZE, weil sie wie
keine andere Organisation geeignet ist, in diesem hybrid geführten Konflikt
Transparenz zu schaffen, für Objektivität zu sorgen und Gesprächsräume offen zu
halten. Die EU, weil wirtschaftlicher Druck notwendig ist, wo es keine militärische
Lösung geben darf.5
Dabei müssen wir Europäer eines beachten:
Wir haben uns in Europa
zusammengetan, weil uns eine gemeinsame Wertebasis verbindet. Diese Wertebasis
haben wir in sicherheitspolitischen und wirtschaftlichen Krisenjahren unter großen
Anstrengungen verteidigt. Über Details können wir streiten. Aber über unsere
Einigkeit und unseren Zusammenhalt sollten keine Zweifel bestehen und keiner sollte
sie leichtfertig aufs Spiel setzen.
In allen drei Organisationen hat sich Deutschland früh und angemessen engagiert.
Deutschland ist nicht nur Rahmennation und Starthelfer der neuen NATO-
Speerspitze, wir bauen das Multinationale Korps Nordost mit auf ebenso wie die
Stützpunkte, die die NATO in ihren östlichen und südlichen Mitgliedstaaten einrichtet.
Der Beitrag der Bundeswehr bei der Umsetzung der NATO-Beschlüsse von Wales ist
damit ebenso wenig wegzudenken wie das unermüdliche Engagement der
Bundesregierung, die Rolle der OSZE zu stärken und für eine geschlossene Haltung
der EU gegenüber Russland zu sorgen. Damit steht Deutschland in der Mitte der
transatlantischen und europäischen Politik.
Schauen wir in die südliche Peripherie Europas, so sehen wir eine Allianz von knapp
60 Staaten gegen den Terror der ISIS; Staaten unterschiedlichster Couleur, die der
gemeinsame Wille eint, die fürchterliche Barbarei zu stoppen; arabische Staaten der
Region, muslimische Staaten und westliche Staaten aus der ganzen Welt. Der
Westen verfügt zweifellos über enorme politische, wirtschaftliche und militärische
Möglichkeiten. Aber der ideologisch aufgeladenen ISIS die pseudoreligiöse Maske
vom Gesicht zu reißen, das kann nur in der breiten Allianz mit den muslimischen
Staaten gelingen, die diese Auseinandersetzung zu ihrer eigenen machen. Auch hier
hat Deutschland früh sein Gewicht in die Mitte der Waagschale geworfen – nicht nur
zugunsten eines breiten politischen Lösungsansatzes. Unser Land hat nach einer
sehr kontroversen innenpolitischen Diskussion auch Tabus aufgelöst. Wir haben
neben humanitärer Hilfe auch Waffen und Munition an die Peschmerga geliefert. Und
letzte Woche hat der Deutsche Bundestag beschlossen, Truppen für eine
Ausbildungsmission in den Nordirak zu schicken.
Denken Sie auch an die vielen Staaten, die im Kampf gegen die Ebola-Epidemie
zusammengefunden haben. Wer hätte vor einem Jahr gedacht, dass in Monrovia
Helfer u.a. aus Kuba, China, den USA und Europa Zelt an Zelt gemeinsam die6
Epidemie bekämpfen? Auch hier war Deutschland schnell zur Stelle. Innerhalb
weniger Tage haben wir eine Luftbrücke in Westafrika aufgebaut, in der die deutsche
Luftwaffe bis zum heutigen Tag in rund 150 Flügen 560 Tonnen Hilfsgüter in die
Ebola-Gebiete befördert hat.
Bereitschaft zu Führen aus der Mitte heißt, dass beides zusammenkommen muss:
Handlungswille und Handlungsfähigkeit. Deshalb haben wir mit dem Irak-Mandat für
unsere Soldaten gezeigt, dass es in unserem deutschen Recht den Raum gibt zu
handeln, wenn es humanitär und sicherheitspolitisch geboten ist. Und deshalb
arbeiten wir mit Hochdruck daran, die Rüstung und das Material der Bundeswehr in
einen Zustand zu bringen, der uns nachhaltig partner- und bündnisfähig erhält.
Führen aus der Mitte bedeutet schließlich auch, sich engagiert der wesentlichsten
Zukunftsfragen der Sicherheitspolitik anzunehmen. Das betrifft die hybride
Kriegsführung und ihre digitale Dimension: Sei es das verdeckte Einschleusen von
Geheimdienst, Militär und Waffen, das Anheizen regionaler oder ethnischer
Spannungen, die politische Destabilisierung, die ökonomische Strangulierung, die
massive Informationskampagne zur Desavouierung der bestehenden Ordnung, die
Nutzung sozialer Medien zur Beeinflussung der öffentlichen Meinung oder Angriffe
auf IT-Strukturen. Das fundamental Neue ist die Kombination und die Orchestrierung
dieses unerklärten Krieges, bei dem erst die Gesamtbetrachtung der einzelnen
Mosaikstücke den aggressiven Charakter des Plans entlarvt. Und das sage ich auch
mit Blick auf die aktuelle Debatte über die Ukraine. Eine Konzentration auf Waffen
allein könnte ein Brandbeschleuniger sein und uns von einer gewünschten Lösung
eher entfernen. Die Bevölkerung leidet bitter. In der Ukraine sind schon viel zu viele
Waffen. Der Nachschub für die Separatisten ist potenziell unbegrenzt. Moskau hat
unzweifelhaft eingegriffen. Daraus erwächst Verantwortung. Es muss möglich sein,
einen Interessenausgleich innerhalb der Ukraine zu finden, der beides garantiert:
staatliche Integrität und das passende Maß an Autonomie.
Es sind die unkonventionellen und vielfältigen Mittel des hybriden Krieges, die
unkonventionell und vielfältig bekämpft werden müssen. Wir müssen das
zerstörerische Narrativ entlarven. Sei es der Allmachtswahn der ISIS oder seien es
die pseudohistorischen Angriffe auf die Integrität der Ukraine. Auch wenn die Mittel
neu sind, es geht auch hier darum, worum es in vielen Kriegen immer gegangen ist:7
Es geht um das Verschieben von Grenzen, den Bruch des Völkerrechts und die
massive Verletzung der Menschenrechte. Diese Mechanismen und Muster müssen
wir offenlegen. Aber wie? Wir haben dazu die Möglichkeit. Denn letztlich ist das, was
als unsere Schwäche verhöhnt wird, unsere größte Stärke: der Zweifel, der
Widerspruchsgeist und die Kritik. Daraus erwachsen die freie Meinungsbildung, die
freie Presse, Toleranz und Pluralität. Das macht eine Gesellschaft widerstandsfähig
gegen Desinformation und Propaganda.
Henry Kissinger hat in einer Diskussion mit mir im Sommer des vergangenen Jahres
gesagt, Deutschland sei geradezu verdammt dazu, eine immer wichtigere Rolle zu
spielen. Ja, das stimmt. Mit dem richtigen Maß. Mit Mut zum Handeln, aber auch mit
Demut im Handeln. So wie es unseren Sicherheitsinteressen, unserer humanitären
Pflicht und unserer historischen Verantwortung entspricht.

(Foto: MSC/Müller)