Zwischenruf: Mit der ‚Todesliste‘ am Thema vorbei

Wäre ich bei der NATO oder den US-Streitkräften für Information Operations mit Ziel Deutschland zuständig (so was gibt es natürlich gar nicht), würde ich heute abend eine Flasche Schampus köpfen. Haben es die Deutschen doch geschafft, sich in einer moralischen und pseudo-rechtlichen Debatte darüber zu verkämpfen, dass ihre Soldaten im Krieg in Afghanistan getötet haben und Truppen anderer ISAF-Nationen dabei unterstützt haben. Das eigentliche Problem der Ziel-Listen mit Aufständischen, die so genannte Joint Prioritized Effects List (JPEL), haben die Deutschen über ihre engagierte Diskussion über Todeslisten völlig aus den Augen verloren.

Denn in der deutschen Öffentlichkeit geht es allein um die schon in den Jahren 2009 und 2010 geführte Debatte, ob Bundeswehrsoldaten auch jenseits von Notwehrsituationen Taliban und andere Aufständische angreifen und töten dürfen. Die Debatte ist spätestens mit der Entscheidung des Generalbundesanwalts, das Verfahren gegen Oberst Georg Klein nach dem Luftschlag von Kundus im September 2009 einzustellen, zumindest juristisch geklärt. Was die selbstquälerische und sehr deutsche Lust an der Diskussion darüber, dass Soldaten in einem Kriegseinsatz töten, nicht mindert.

Doch kein Mensch redet in Deutschland darüber, dass Listen wie die JPEL zwar rechtlich zulässig sind – aber ihr Zustandekommen in Teilen äußerst fragwürdig war und bleibt. Auch in dem Spiegel-Bericht, der am vergangenen Wochenende die jüngste Debatte auslöste, wird ein ganz großes Manko eher nebenbei recht spät im Text erwähnt:

Zu den wohl umstrittensten Entscheidungen der Nato in Afghanistan zählt die Ausweitung der Operationen auf Drogenhändler.  (…) Im Oktober 2008 trafen die Verteidigungsminister der Nato laut dem NSA-Dokument eine folgenschwere Entscheidung: Drogennetzwerke seien künftig „legitime Ziele“ der Isaf-Truppen. „Drogenhändler wurden zum ersten Mal in die JPEL-Liste aufgenommen“, heißt es in dem Bericht. (…)
Anfang 2009 erließ der damalige Nato-Oberbefehlshaber Craddock eine Order, wonach die Strategie der zielgerichteten Tötungen von Taliban-Kadern auf Drogenproduzenten ausgeweitet werde. Das führte zu heftigen Diskussionen innerhalb der Nato. Der deutsche Nato-General Egon Ramms erklärte den Vorstoß für „illegal“, er verletze internationales Recht.

Und da liegt der Knackpunkt. Die Anwendung tödlicher Gewalt gegen Mitglieder organisierter bewaffneter Gruppen als Gegner ist nach dem Völkerstrafrecht humanitären Völkerrecht  legitim; die Anwendung gleicher Gewalt gegen bloße Kriminelle ist es nicht. Zumal den deutschen Soldaten das Vorgehen gegen die Drogenkriminalität ausdrücklich eben nicht ins Mandat geschrieben wurde. Was zu der Frage führt, die leider von den Kollegen mit Zugang zu diesen Listen nicht beantwortet wird: Haben die Deutschen auch Personen für die JPEL identifiziert, die gerade nicht den Taliban zugerechnet werden konnten, wohl aber der Drogenkriminalität?

In US-Medien ist dieser Punkt als das wesentliche Neue des Spiegel-Berichts identifiziert worden. Leaked Documents Show the US Used Drone Strikes to Target Afghan Drug Lords, meldet das US-Magazin Vice News – unter Berufung eben auf den Spiegel.

Hierzulande gibt es offensichtlich nicht das Bedürfnis, zu klären, wer eigentlich auf dieser Liste stand, obwohl er nicht Partei in dem nicht-internationalen bewaffneten Konflikt in Afghanistan war, also fälschlich oder irrtümlich auf diese Liste geriet (ein aufrüttelndes Beispiel hier.)  Wichtiger scheint die Frage, ob deutsche Soldaten in einem Kriegseinsatz tödliche Gewalt anwenden dürfen. Grundsätzliches halt. Damit man nicht über möglicherweise verstörende Details reden muss.

(Dieser kommentierende Zwischenruf musste nach der Sachdarstellung in den Threads hier und hier mal sein.)

(Archivbild April 2011: US-Soldaten vor einem Mohnfeld in Afghanistan – ISAF RC South)