Afghanistan: Snowden-Leak zu ‚Todesliste der NATO‘

ISAF_Noor_Leidenberger_20100310_crop

Kurz vor dem Ende des ISAF-Einsatzes berichtet der Spiegel am (heutigen) Samstag vorab von einer NATO-Todesliste in Afghanistan. Das Dokument soll vom NSA-Whistleblower Edward Snowden stammen und belegen, dass die NATO-geführte ISAF-Operation auf teils fragwürdiger Grundlage über gezielte Tötungen von Aufständischen am Hindukusch entschieden habe.

Mehr als diese Vorabmeldung kenne ich bislang nicht; bei der obligatorischen Plausibilitätsprüfung fallen mir zwei Dinge auf: Handelt es sich tatsächlich um eine NATO-Liste oder um eine Liste der US-geführten Operation Enduring Freedom (OEF), auf die Snowden aufgrund seines Zugangs zu US-Material eher Zugriff gehabt haben dürfte? Und wenn der langjährige Provinzgouverneur von Balk, Mohammed Atta Noor (Foto oben, mit dem damaligen deutschen Kommandeur im Norden) auf dieser Liste stand – scheint das für ihn, der in den vergangenen Jahren für die Afghanen wie für die NATO immer öffentlich sichtbar war, keine Auswirkungen gehabt zu haben?

Die Spiegel-Vorabmeldung im Wortlaut:

SPIEGEL enthüllt geheime Todesliste aus Afghanistan
Neue Einblicke in die Geheimoperationen der Nato in Afghanistan: Bevor der Kampfeinsatz am Hindukusch nach 13 Jahren in dieser Woche offiziell endet, erhielt der SPIEGEL erstmals einen umfassenden Einblick in die sogenannte Joint Prioritized Effects List (JPEL), auf deren Basis die westliche Allianz in Geheimoperationen zahlreiche tödliche Einsätze durchführte. Die Liste, die zeitweise mehr als 750 Personen umfasste und bislang nur in Auszügen bekannt war, belegt unter anderem, auf welch dünnen und teils willkürlich anmutenden Grundlagen die Streitkräfte Verdächtige für die gezielten Tötungen nominierten. Viele waren Taliban der mittleren und unteren Ebene, manche gerieten nur auf die Liste, weil sie mit Drogen handelten. Zudem verließen sich die Nato-Kräfte den Unterlagen zufolge, die unter anderem aus dem Bestand von Edward Snowden stammen, bei ihrer Zielerfassung in erheblichem Maße auf technische Aufklärung. So nutzten sie einem britischen Dokument zufolge ein System der Stimmidentifizierung, bei dem es ausreichte, wenn ein Verdächtiger sich in einem überwachten Gespräch einmal namentlich identifizierte. „Predator“-Drohnen und mit Sensoren ausgerüstete britische Eurofighter suchten dafür die Funksignale am Hindukusch nach bekannten Mobiltelefonnummern ab. Innerhalb der folgenden 24 Stunden galt diese Stimmenerkennung demnach als „positive Zielidentifizierung“ und damit als Legitimation für einen Luftschlag – dies führte zu Verwechslungen und zum Tod von Zivilisten.
Der als „Top-Secret“ gekennzeichnete Datensatz offenbart erstmals auch die Kriterien, nach denen die Nato in Afghanistan über Leben oder Tod von Gegnern entschied. Der Tod von unschuldigen Zivilisten wurde bei den gezielten Tötungen explizit in Kauf genommen, wenn die Bedeutung des Ziels dies zu rechtfertigen schien. Selbst hohe Regierungsmitglieder finden sich auf der JPEL-Liste, etwa der mächtige Provinzgouverneur Atta Mohammed Noor.
Jennifer Gibson von der Menschenrechtsorganisation Reprieve sagt angesichts der neuen Erkenntnisse, der Krieg gegen den Terror und gegen die Drogen sei in Afghanistan offenbar „faktisch verschmolzen“: „Das ist aus juristischer Perspektive extrem problematisch.“ Die Organisation will die neuen Fakten nun prüfen und dann über rechtliche Schritte gegen die beteiligten Regierungen entscheiden.

(Archivbild: Mohammed Atta Noor mit dem damaligen deutschen Kommandeur im RC North, Brigadegeneral Frank Leidenberger, im März 2010 – Paul Hicks/ISAFmedia via Flickr unter CC-BY-Lizenz)