Dokumentation: von der Leyens erste Bundestagsrede nach (erneutem) Amtsantritt

Der (heutige) Mittwoch stand im Bundestag im Zeichen der Regierungserklärung der wiedergewählten Bundeskanzlerin Angela Merkel und der ersten Reden der (zum Teil neuen) Bundesminister. Ursula von der Leyen, erneut Verteidigungsministerin, hielt am Mittwochabend ihre erste Rede nach Amtsantritt. Angesichts der relativ späten Zeit hier zur Dokumentation das vorab mit Sperrfrist veröffentlichte Redemanuskript.

(Wie üblich ist schwer vorherzusagen, ob und wo es Abweichungen der tatsächlichen Rede vom Manuskript geben wird; ggf. trage ich den Text aus dem Bundestagsprotokoll später nach.)

Der Redetext:

Zu Beginn einer Legislaturperiode steht immer eine Bestandsaufnahme. Im Bereich Sicherheit- und Verteidigung fällt sie ernüchternd aus.
Die Welt ist seit 2014 unberechenbarer und unsicherer geworden – und das wird sich auf absehbare Zeit nicht ändern. Die Stichworte kennen Sie: der transnationale Terrorismus, Bürgerkriege und instabile Staaten an der Peripherie Europas, eine provokative, teils offen aggressive Machtpolitik Russlands, aber auch weit reichende Raketen und Massenvernichtungswaffen in den Händen eines Mannes wie Kim Jong Un.

Wir alle haben es in den vergangenen Jahren gespürt. Europa kann sich dieser Weltlage nicht entziehen. Europa muss sich den Herausforderungen stellen: dem Terror, der Unsicherheit, den Cyberattacken, den subtilen Versuchen der Destabilisierung unserer Gesellschaften, und nicht zuletzt den Folgen der Krisen, die uns in Form von Flucht und Vertreibungen direkt betreffen.
Deswegen ist es in unserem ureigenen Sicherheitsinteresse, dass wir mehr Verantwortung für unsere Sicherheit und Verteidigungsfähigkeit übernehmen. Ich sage ganz klar: Wir müssen mehr dafür tun!

Vier Maxime leiten uns.

Erstens: Glaubwürdigkeit, dass wir bereit sind zu handeln,
wenn es um die Interessen Deutschlands und Europas geht. Ein Land von der Größe und politischen Bedeutung Deutschlands muss den Anspruch haben, selbst Verantwortung zu übernehmen. Und nach Kräften einzutreten für die eigene Sicherheit, für die eigenen Werte und ja, auch die eigenen Interessen. Deutschland kennt dabei seine Verantwortung, aber auch seine Grenzen. Wir handeln nur in unseren Bündnissen – nie alleine. Und wir stehen fest an der Seite unserer Partner, auch wenn es schwierig und gefährlich wird – etwa in Mali, Afghanistan oder im Kampf gegen den IS. Nur so sind wir für unsere Partner jederzeit glaubwürdig. Dies ist ein hohes Gut.

Zweitens: Verlässlichkeit. Wir stehen selbstverständlich und ohne Wenn und Aber zu unseren Verpflichtungen und Zusagen in NATO, EU und in den Vereinten Nationen. Wir sollten nie vergessen: Das sind die Bündnisse, denen Deutschland mehr als 70 Jahre Frieden, Freiheit und Wohlstand zu verdanken hat!

Deswegen gehört für mich zur Verlässlichkeit dazu, dass Deutschland auch bei schwierigen Debatten, etwa der um unser Verhältnis zu Russland, jederzeit– und bei aller Bereitschaft zum Dialog – klar signalisiert, wo wir stehen: Auf der Seite der offenen und freiheitlichen  Gesellschaften des Westens, in denen Meinungsfreiheit herrscht, Bürgerrechte respektiert und die internationalen Regeln des Völkerrechts beachtet werden.

Drittens: Wir wollen transatlantisch bleiben und europäischer werden. Ja, Europa muss mehr Verantwortung für die eigene Sicherheit übernehmen. Aber das enthebt uns nicht der Aufgabe, das wertvolle Band, das die freien demokratischen Gesellschaften Europas mit Amerika verbindet, unermüdlich zu stärken und immer wieder zu erneuern. Gerade in einer multipolaren Welt, in der autokratische Gegenentwürfe unsere freie westliche Art zu leben und unsere demokratischen Errungenschaften zunehmend herausfordern, wäre es töricht, dieses haltende freundschaftliche Band in Frage zu stellen. Die NATO bleibt unverzichtbarer Anker unserer Sicherheit. Wir werden uns auch weiterhin mit großer Kraft im Bündnis engagieren.

Doch zugleich wollen wir mit aller Energie daran arbeiten, dass Europa eigenständiger und handlungsfähiger in Fragen der Sicherheit und Verteidigung wird. Wir haben zusammen in den vergangenen zwei Jahren mit Frankreich viel bewegt – wir haben die Europäische Verteidigungsunion aus der Taufe gehoben. Jetzt wollen wir die praktische Zusammenarbeit vorantreiben, hin zu unserem Ziel einer „Armee der Europäer“.

Vierte Maxime: Sicherheit ist mehr als Militär. Nur der kluge Mix der Instrumente – von der Diplomatie über die Entwicklungszusammenarbeit bis hin zum Einsatz militärischer Mittel bringt nachhaltigen Erfolg. Das heißt aber auch: militärische Mittel klug und sinnvoll zu nutzen, zum Einsatz oder auch zur Ertüchtigung von Partnern in Krisenregionen, die vor Ort selbst nachhaltiger und besser für Sicherheit sorgen können.

Die Bundeswehr ist unverzichtbarer Teil unserer Sicherheitspolitik. Und das merken wir in der Bundeswehr: Die Soldatinnen und Soldaten sind gefordert wie selten zuvor. Und sie leisten ihren Dienst für unser Land in der Heimat und überall auf der Welt mit bewundernswertem Engagement und großem Erfolg. Trotz aller Anstrengungen, Entbehrungen und Gefahr. Dafür – und ich glaube ich spreche für alle hier im Hohen Haus – zollen wir ihnen Respekt und Anerkennung, vor allem aber sind wir ihnen aus vollstem Herzen unendlich dankbar!

Die Bundeswehr agiert in einem breiten Spektrum an Einsätzen mit erheblichem Einsatz von Personal und Material. Da sind die mandatierten Einsätze auf drei Erdteilen und auf zwei Weltmeeren, von Afrika, über die Missionen im Mittelmeer, den Balkan, den Indischen Ozean, Irak bis hin nach Afghanistan. Da sind die einsatzgleichen Verpflichtungen im Rahmen der Bündnisverteidigung. Und das sind nicht nur die regelmäßige Teilnahme am Air Policing Baltikum und an den multinationalen NATO- Einheiten in Litauen. Das sind auch die vielen bündnisgemeinsamen Übungen überall in Europa, die sich gegenüber den vergangenen 2 Jahren nahezu verdoppelt haben.

Insgesamt sind aktuell über 18.000 Soldatinnen und Soldaten gebunden: darunter 10.000 im Rahmen der Landes- und Bündnisverteidigung – und über 3.500 in den mandatierten Einsätzen. Zusätzlich wird die Bundeswehr auch gefordert, neue Bedrohungen abzuwehren: Hybride Aggressionen und Cyberattacken – und wir alle erleben mit Entsetzen, dass auch das Unvorstellbare wieder in Europa Einzug hält: Anschläge mit chemischen Kampfstoffen.

Die Vielfalt der Aufgaben verlangt von der Bundeswehr eine enorm breite Palette an Fähigkeiten vorzuhalten, sehr flexibel agieren zu können und sich in großem Tempo auf neue Herausforderungen einzustellen.

Wir werden diese Aufträge erfüllen, aber wir dürfen auch nicht vergessen, woher die Bundeswehr kommt. Die Bundeswehr ist im Umbruch: Sie wächst wieder nach über 25 Jahren des Schrumpfens.

Natürlich war die Verkleinerung der Bundeswehr nach Ende des Kalten Krieges und der Deutschen Einheit geboten und notwendig – allein schon um die Aufgabe der Wiedervereinigung zu stemmen. Doch die Bundeswehr bekam parallel zum Schrumpfungsprozess mit den Auslandseinsätzen eine neue und fordernde Aufgabe. Sie musste trotz fallender Finanzlinien und sinkender Kopf- und Materialzahlen liefern. Das hat sie bravourös und tapfer getan. Aber es wurde daraus schleichend ein „von der Hand in den Mund leben“. Die Finanzkrise verstärkte diesen Effekt noch – übrigens auch in allen anderen europäischen Streitkräften. Aus der Not entstanden hohle Strukturen – etwa Panzertruppe ohne eigene Panzer. Gerät wurde und wird zum Teil quasi kannibalisiert, um nicht mehr bestellte oder bestellbare Ersatzteile zu gewinnen.

Dann kam das Jahr 2014 – die Annexion der Krim und der Siegeszug des IS. Das zeigte schlagartig: Wir brauchen schnell mehr Fähigkeiten, mehr Gerät, mehr Personal, um diese neue Lage zu meistern.
Deswegen haben wir in den vergangenen 4 Jahren umgesteuert: Die Bundeswehr wächst wieder. Wir haben gleich zu Beginn Transparenz hergestellt, wir haben die Probleme der Bundeswehr nicht schön geredet. Wir haben begonnen, erkannte Defizite systematisch und Schritt für Schritt abzustellen.

2016 dann haben wir als Bundesregierung mit dem gemeinsamen Weißbuch eine strategische sicherheitspolitische Lageanalyse vorgelegt. Darauf bauen die Trendwenden Personal, Material und Finanzen auf. Das Ziel: einsatzbereite Streitkräften, die auch den neuen Gefahren für die Sicherheit unseres Landes gewachsen sind.

Jetzt sind wir in der Phase der Umsetzung. Kein Großkonzern würde es schaffen, sich in 3-4 Jahren strategisch neu auszurichten und seine Personalstrategie komplett umzukrempeln und seinen Materialbestand im Wert von 200 Milliarden Euro in weiten Teilen zu erneuern oder zu modernisieren.

Das braucht Zeit, das braucht Geld und das braucht auch Geduld.
In dieser Phase läuft leider nicht immer alles rund – gerade bei der materiellen Einsatzbereitschaft. Die Presse ist voll davon.

Selbstverständlich ist es nicht befriedigend, wenn es immer wieder zu Ausfällen bei wichtigen Systemen wie Flugzeugen, U-Booten oder anderem Gerät kommt. Doch solche plakativen Fälle drohen den Blick auf die reale Situation der Bundeswehr zu verschleiern.

Wir sind noch lange nicht dort, wo wir sein wollen. Aber bei den 53 Hauptwaffensystemen, die allein auf eine Bestandsgröße von über 5.000 Stück kommen, liegt die Einsatzbereitschaft im Mittel bei 70 Prozent.
Wir gehen mit großer Kraft daran, dass wir besser werden. Doch wir müssen auch feststellen, dass das Gerät durch mehr Übungen stärker gefordert wird. Insofern ist die immer wieder gestellte Frage, ob man nicht mit der Beendigung der Auslandseinsätze mit einem Schlag die Einsatzbereitschaft verbessern könnte, mit einem klaren Nein zu beantworten.

Es ist nicht der Kräfteansatz in den Einsätzen, der für den Löwenanteil des gestiegenen Verschleißes verantwortlich ist, sondern die seit der Krim-Annexion gestiegene Bedeutung der Landes- und Bündnisverteidigung. Ein Ende aller oder einiger Einsätze wäre also kein Befreiungsschlag – sondern eine Gefahr für unsere und die europäische Sicherheit. Politisch wäre es verheerend.

Die Bemühungen der vergangenen Jahre beginnen zu greifen: Neues Gerät läuft Monat für Monat zu, der Gerätepark modernisiert sich, wir vergrößern den Bestand. Jetzt ist das wichtigste – und das ist für die Bundeswehr entscheidend im Koalitionsvertrag –, dass wir die Trendwenden und die Modernisierung der Bundeswehr fortsetzen, ja sogar beschleunigen.

Was also wollen wir angehen in dieser Legislatur?

Erstens: Wir wollen unsere Ziele weiter untermauern. Welche Streitkräfte brauchen wir, um in der sicherheitspolitischen Lage zu bestehen, unseren sicherheitspolitischen Ansprüchen des Weißbuches den Verpflichtungen in den Bündnissen und den Erwartungen unserer Partner zu genügen? Das leiten wir her aus dem Weißbuch und in der Konzeption der Bundeswehr und dem darauf aufbauenden Fähigkeitsprofil der Bundeswehr. Die Konzeption der Bundeswehr werden wir zeitnah verabschieden.

Zweitens: Wir werden uns noch intensiver dem Rüstungswesen widmen, um es weiter zu modernisieren und das Beschaffungswesen weiter zu verbessern. Da wird es etwa um die Umsetzung mehrjähriger Finanzierungszyklen gehen, die Anpassung des Vergaberechts oder die Untersuchung der Beschaffungsorganisation.

Wir wollen drittens dafür sorgen, dass die Agenda Nutzung Fahrt aufnimmt, um die materielle Einsatzbereitschaft nachhaltig zu erhöhen.

Viertens wollen wir die Chancen der Digitalisierung auch für die Bundeswehr nutzen – von der Verwaltung und Logistik bis hin zum digitalen Gefechtsfeld. Dazu werden wir eine „Strategie Digitale Bundeswehr“ umsetzen, die sich um die Umsetzung technischer Fragen kümmert und Ressourcen bereitstellt, sich zugleich aber auch struktureller und kultureller Fragen annimmt.

Wir werden fünftens die Trendwende Personal vorantreiben. Wir wollen als Arbeitgeber noch attraktiver werden. Soldatinnen und Soldaten sollen die bestmöglichen Rahmenbedingungen für ihren fordernden Dienst haben. Dazu werden wir ein Gesetzespaket „Moderner Arbeitsgeber Bundeswehr“ schnüren. Da geht es um Zulagen, attraktivere Gehalts- und Besoldungsstrukturen, verbesserte soziale Absicherung und ein flexibleres Dienstrecht.

Sechstens: Wir wollen die Trendwenden durch eine Agenda Ausbildung ergänzen. Dazu werden wir die Ausbildung in der Bundeswehr persönlicher, praxistauglicher und zielgerichteter gestalten – stärker als bisher orientiert an der Lebenswirklichkeit der Truppe.

Hinter allen diesen Vorhaben steht aber eine Grundfrage: Was sind uns moderne und einsatzbereite Streitkräfte wert? Was wollen wir dafür investieren? Die Antwort lautet: Es wird mehr werden müssen. Der 51. Finanzplan ist eine tragfähige Ausgangsbasis – nicht mehr und nicht weniger. Deswegen ist es gut, dass der Koalitionsvertrag wichtige weitere Aussagen trifft, nach denen der Verteidigungshaushalt zusammen mit den Ausgaben für Entwicklungszusammenarbeit weiter gestärkt werden kann. Und das ist auch dringend nötig: für beide Ressorts!

Wird dies jedoch reichen? Wir werden diese Frage in den kommenden Monaten sehr transparent angehen. Wir werden dem Bundestag und der Öffentlichkeit darlegen, wie die Bundeswehr gemäß sicherheitspolitscher Lage, unserem sicherheitspolitischen Anspruch und abgestimmt mit den Erwartungen unserer Verbündeten aufgestellt sein muss. Daraus werden wir mit Zahlen und Fakten unterlegt ableiten, was es an Mitteln braucht, um die Bundeswehr dementsprechend aufzustellen. Es wird klar nachvollziehbar sein, welche Fähigkeiten wegfielen oder Lücken blieben, wenn diese Mittel nicht für die Bundeswehr zur Verfügung stehen.

Die Entscheidung darüber trifft gemäß dem Grundgesetz der Bundestag. Das erinnert uns alle daran, dass der Titel Parlamentsarmee, den die Bundeswehr mit Stolz trägt und den unsere Soldatinnen und Soldaten als Rückendeckung begreifen, diesem Hohen Haus eine große Verantwortung zuschreibt. Der wollen und müssen wir nachkommen.

(Foto: Von der Leyen bei der Wahl der Bundeskanzlerin im Bundestag am 14. März 2018 – Bundeswehr/Torsten Kraatz)