Gastbeitrag: Saving Private Schmitz

In der aktuellen Debatte über die Bundeswehr, was sie prägt, ihr Traditionsverständnis und natürlich auch die Fälle und Vorwürfe rechtsextremistischer Umtriebe freue ich mich über diesen Gastbeitrag: Gregor Weber ist Autor und bekannt als Schauspieler. Unter anderem spielte er zehn Jahre lang Kommissar Stefan Deininger im saarländischen Tatort. Die Bundeswehr ist seit vielen Jahren ein wichtiges Thema seiner Bücher und seines Lebens. Nach dem Wehrdienst als Funker bei der Marine wechselte er in der Reserve zum Heer und leistet dort seit gut zehn Jahren regelmäßig Dienst als Pressefeldwebel in der Gebirgs- und Fallschirmjägertruppe. In dieser Funktion war er 2013 auch im ISAF-Einsatz in Kunduz. Derzeit ist er bei der Division Schnelle Kräfte beordert. Sein aktueller Dienstgrad ist Hauptfeldwebel d.R.

Saving Private Schmitz – wie wir die Bundeswehr umarmen sollten

Ein Soldatenfriedhof am Strand der Normandie. Sonnenschein, viele Besucher. Stars and Stripes wehen majestätisch im Wind, daneben die Flagge Frankreichs. Ein alter Mann geht unsicher über das Gras, durch endlose Reihen weißer Steinkreuze und Davidssterne, in einigen Metern Abstand offenbar seine Familie. Vor einem Kreuz bleibt er stehen, muss, von überwältigender Regung erschüttert, in die Knie, hält sich am Kreuz fest. Er weint.

So beginnt und endet der Film „Saving Private Ryan“. Dazwischen entfaltet sich die Geschichte der Rettung dieses Mannes als junger Fallschirmjäger bei der Befreiung Frankreichs. Ein Trupp Ranger hat alles riskiert und das meiste verloren, um ihn zu finden. Der Führer des Trupps, Captain Miller, sagt am Ende sterbend zu dem jungen Ryan: „Earn this. Earn it!“, verdien dir diese Rettung. Und Ryan, jetzt ein alter Mann, fragt, fast bittend wie ein Kind, seine Frau, ob er ein gutes Leben geführt hat. „Tell me, I am a good man“, sag mir, dass ich ein guter Mensch bin.

In diesen wenigen Ausschnitten liegt – hochemotional aufbereitet – das Bestmögliche, was Soldat sein bedeuten und das Äußerste, was es fordern kann. Die Verpflichtung, dem Ruf der eigenen Nation in der Not zu folgen. Der Wille, einer anderen Nation im Kampf um die Freiheit beizustehen. Die Bereitschaft, für einen unbekannten Kameraden das Leben zu wagen. Kämpfen und dabei anständig bleiben. Den Tod anderer nicht achselzuckend hinzunehmen, sondern daraus ein Ethos fürs eigene Weiterleben abzuleiten. Die Gefallenen nicht vergessen. Dankbar sein für das eigene Leben und die eigene Freiheit. Die Anerkennung dessen, was der Soldat im Krieg erduldet und geleistet hat durch Familie und Gesellschaft.

Als Deutscher sieht man diesen und zahllose andere Filme mit gemischten Gefühlen. Denn es sind selbstverständlich und wahrheitsgemäß nie deutsche Soldaten, die auf der Leinwand Unfassbares erleben, um am Ende, seien sie auch noch so beschädigt und erschüttert, als Helden da zu stehen, weil alles, was sie erlitten und taten, zu einem höheren Zweck geschah. Dass viele Soldaten der Wehrmacht ihren eigenen Kriegsdienst wohl nicht anders in der Rückschau beurteilten als alliierte Kämpfer, ändert auch nichts daran, dass der Zweck, zu dem sie auf die Schlachtfelder geschickt wurden, durch und durch böse und menschenverachtend war. Da ist ein Riss. Eine Schlucht. Ein Trauma.

Das Selbstbild gebot dem Einzelnen, sich trotz der verbrecherischen Motive des Nazi-Staates letztlich als treuen Verteidiger des eigenen Landes zu sehen, der unter der Androhung, selbst an die Wand gestellt zu werden, zum notgedrungenen Werkzeug des Terrors geworden war. Der sogenannte Befehlsnotstand musste als Rechtfertigung herhalten und infizierte jeden Versuch der ehrlichen Aufarbeitung.
Gegen diese Infektion wurde die Bundeswehr von Geburt an geimpft. Das Mittel heißt „Innere Führung“ und besteht aus mehreren Ingredienzen. Der Integration in Staat und Gesellschaft, dem Leitbild des Staatsbürgers in Uniform, der Legitimation des Auftrags, den Grenzen von Befehl und Gehorsam und dem Prinzip des Führens mit Auftrag kommt von diesen Zutaten für die Beurteilung der derzeitigen Lage der Bundeswehr wohl die größte Bedeutung zu.

Kurz gefasst bedeuten sie, dass jeder Soldat der Bundeswehr immer auch voll berechtigter Bürger bleibt (mit minimalen Einschränkungen in der Dienstzeit) und so Teil der Gesellschaft, und dass er auf seiner Ebene Entscheidungen immer selbst verantwortet. Ob Gefreiter oder General, ein Soldat der Bundeswehr muss Befehle und Aufträge auf ihre Rechtmäßigkeit überprüfen und unrechtmäßige Befehle verweigern. Sonst wird er ebenso haftbar für Folgen gemacht, wie der Vorgesetzte, der den Befehl erteilt hat.
Jeder Soldat dieser neuen Armee sollte die Demokratie und ihre Werte als untrennbaren Teil seiner Nation begreifen, als das, wofür er im Ernstfall kämpft. Um das lebendig zu halten, darf man ihm auch in Uniform niemals den vollen Schutz dieser Freiheiten und die Rechte des Bürgers einer Demokratie nehmen. Freier unter Freien, eingebunden in eine Hierarchie zwar und in ein System, das nur durch Befehl und Gehorsam funktionieren kann, ihm aber – durch das Prinzip „Führen mit Auftrag“ – die volle Verantwortung für erhaltene Aufträge überträgt und ihm zutraut, stets die Absicht seiner Führung zu begreifen und seine Auftragserfüllung in deren Sinne selbständig zu planen und anzugehen. Das würde er endlich sein. Der deutsche Captain Miller, der deutsche Private Ryan.

Als ich mich 1987 entgegen der vorherrschenden Haltung in meinem gesamten Freundeskreis entschloss, zur Bundeswehr zu gehen, hatte das sehr viel mit diesen Prinzipien zu tun, ohne dass ich diese damals wirklich gekannt hätte. Ein Lehrer für Religion, Geschichte und Politik, der mich im Gymnasium sehr geprägt hat, hatte mir – obwohl selbst Pazifist – in einem Gespräch geraten, diesen Schritt zu gehen, weil wir diese Armee doch nicht nur den Konservativen überlassen könnten. Das sei zum ersten Mal in der deutschen Geschichte eine Armee, die aus den richtigen Gründen existiere und die uns alle repräsentiere. Deswegen sei es wichtig, dass auch junge Männer mit meinen politischen Einstellungen in ihr dienen würden, sonst würde es irgendwann vielleicht kippen.

Ich hatte keine Angst vor dem Wehrdienst. Ich war gespannt. Die Grundausbildung war kein Spaziergang, aber auch weit entfernt von irgendeiner Hölle. Ich fühlte mich nie bedroht oder machtlos. Wenn mir etwas gegen den Strich ging, las ich, was dazu im Soldatengesetz stand und vertrat dann meinen Standpunkt. Mein Gruppenführer war nicht die hellste Kerze auf der Torte und im einzigen Suff, den er sich je mit uns erlaubte, sonderte er rassistische Sprüche ab, woraufhin ihm Eiseskälte seiner Untergebenen entgegenschlug und er recht flott das Mannschaftsheim verließ. Vielleicht hatte ich Glück. Es gab und gibt immer auch Schleifereien bei der Bundeswehr. Es gab und gibt Verletzte und Tote. Gebrochene Menschen. Es gab und gibt Rechtsextremisten.

Es ist eine Binse, dass Dienst in der Bundeswehr Menschen mit rechtsextremen Einstellungen anzieht. Es ist aber auch eine Tatsache, dass in aller Regel nichts so zuverlässig zu disziplinaren Maßnahmen bis hin zur Entlassung führt, wie das Auffälligwerden solcher Einstellungen. Die Innere Führung, die fortwährende Sensibilisierung in der Vorgesetztenausbildung, die drastischen Veränderungen in der Bundeswehr von den Auslandseinsätzen über die Öffnung aller Laufbahnen auch für Frauen bis hin zur Aussetzung der Wehrpflicht, die von der Bundeswehr immer wieder Aufmerksamkeit nach innen, Wandel, Anpassung an neue Gegebenheiten fordern – das alles steigert die Wachsamkeit, kostet aber auch Kraft.

Und die Soldaten dieser Bundeswehr mussten sich seit 1991 in atemberaubendem Tempo in ihrer militärischen Verfasstheit mehrfach um die eigene Achse drehen. Von der Massenarmee des Kalten Krieges in eine kleinere professionelle Einsatztruppe. Und damit vom theoretischen Krieg hin zum tatsächlichen. Neben dem Erlernen und Trainieren militärischen Handwerks geriet durch die sich intensivierende Bedrohungslage in Afghanistan eine andere, komplexere Anforderung in den Fokus: Die Definierung und Heranbildung eines Ethos des Kämpfers, aber aus dem Prinzip der Inneren Führung heraus und zu den Prinzipien einer freiheitlichen Demokratie passend.

Damit tut sich die Bundeswehr enorm schwer, unter anderem, weil sie fürchtet, dieses Ethos in unserer Friedensgesellschaft am Ende dem Bürger nicht vermitteln zu können, weil dieser entweder davon peinlich berührt ist oder sich sogar erschrickt. Dass dann an vielen Stellen ein fehlendes Leitbild mit plumpem Machismo ersetzt wurde, hatte fatale Folgen für das innere Gefüge. Exzesse in der Ausbildung, sinnlose Härte, die nichts mit notwendiger Herausbildung von Durchhalte- und Leidensfähigkeit zu tun hat, alltägliches Mobbing und immer wieder auftretender Sexismus haben sowohl mit einem fehlgeleiteten Männer- und Kämpferbild zu tun, als auch mit nicht ausreichender Führung und Leitung.

Natürlich wurde bei der Bundeswehr immer auch zum Kämpfen ausgebildet, aber es ist etwas anderes, wenn nach der Ausbildung dann tatsächlich Gefechte und Anschläge kommen. Wenn geschossen wird, getötet und gestorben. Wenn Soldaten verwundet an Körper oder Seele zurückkehren. Wenn die Gründe, weswegen Soldaten in Einsätze geschickt werden, sich fundamental von den gewohnten Erklärungsmustern für die Existenz der Bundeswehr unterscheiden. Wenn klar wird, dass sich viele Bürger nicht mehr selbstverständlich mit diesen neuen Erklärungen identifizieren können und ihre allgemeine Ablehnung weltweiter militärischer Engagements als Ablehnung ihrer selbst bei den Soldaten ankommt. Als dann auch noch die Wehrpflichtigen aus den Kasernen verschwanden, geriet der Austausch zwischen Armee und Bevölkerung ernstlich ins Stocken.

Richtig schwierig wurde es aber mit dem Selbstverständnis deutscher Soldaten, als sich vor allem anhand des Afghanistaneinsatzes zeigte, dass verantwortliche Politiker der kritischen Bevölkerung eine Sicht der Lage und der nötigen Schritte vermittelten, die viele Soldaten nicht in Einklang mit ihrer persönlichen Erfahrung im Einsatz brachten, von der sie aber das Gefühl hatten, sie passe Politik und Gesellschaft so gut in den Kram, dass die Sicht der Soldaten keine Rolle im öffentlichen Diskurs mehr spielen dürfe.

Spätestens zu diesem Zeitpunkt – so habe ich das jedenfalls wahrgenommen – lavierten sich manche Soldaten innerlich in eine Haltung, die der der Generation Wehrmacht ähnelte. Wenn Ihr nur noch Eure Interpretation gelten lasst, dann ziehe ich mich eben auf die Erhaltung meines Selbstbilds zurück. Dass eine solche Haltung eher kindischen Trotz ausdrückt als einen förderlichen Austausch anzustoßen, kam und kommt diesen Soldaten eher nicht in den Sinn. Und ich fürchte, der eine oder andere unter ihnen hampelt aus genau diesem Trotz gerne mit Wehrmachtshelmen und Schmeißer-MPs herum. Weil er sich gedisst fühlt wie Opa und den unwiderstehlichen Drang verspürt, mit dem Feuer zu spielen.

Wenn sich dieser Trotz über Jahre und Karrieren durch die Führungsebenen zu ziehen beginnt, kann er zur ernsthaften Gefahr werden. Ich glaube keinesfalls, dass die Bundeswehr ein Rechtsextremismusproblem hat, das wesentlich über dem der Gesamtgesellschaft liegt. Auch ein Franco A. samt möglichen Mitverschwörern, so unerträglich und vollständig inakzeptabel die vermutlichen Tatbestände für die Bundeswehr auch sind, ändert nicht die Statistik.

Aber die Bundeswehr hat meiner Ansicht nach ein Problem mit Trotz, Rückzug aus dem gesellschaftlichen Diskurs und mit fehlender durchgreifender Führung auf vielen Ebenen. Letzteres hängt auch mit der Konstruktion der Karrieren von Berufsoffizieren zusammen. Wer Führungskräfte alle zwei, drei Jahre quer durch die Republik versetzt und ehrgeizigem Personal früh klar macht, dass schon die geringsten Fehler zu massiven Karriereknicks führen können, der darf sich nicht wundern, wenn Probleme hier und da nicht gelöst, sondern für Nachfolger liegen gelassen werden oder ein Klima entsteht, in dem Soldaten zum Schönreden neigen und vorauseilend nach oben melden, es sei schon alles in Ordnung. Was dann wiederum dazu führt, dass von oben, wo eigentlich klar ist, dass nicht immer alles so in Ordnung ist, wie man sich das herbeibefiehlt, dann große Überraschung demonstriert werden muss, wenn ein Sumpf sich zeigt.

Dass in einer Organisation mit gut 170.000 Mitgliedern, die der Sicherheit eines Landes dient und deren Angehörige für die Interessen dieses Landes mit der Waffe in der Hand und der eigenen Gesundheit auf dem Spiel einstehen müssen, nicht immer und zu jeder Zeit alles gut sein kann, wird jeder vernünftiger Mensch einsehen. Und an dem, was in den letzten Wochen und Monaten an die Oberfläche kam, gibt es nichts zu beschönigen, sondern nur Ermittlungsergebnisse und Urteile abzuwarten, sowie klare Konsequenzen durch die Bundeswehr zu zeigen. Rechtsextremismus, Mobbing, Sexismus und unnötige Härte haben in der Bundeswehr nichts zu suchen. Das weiß die Bundeswehr selbst sehr gut, denn die allermeisten Soldaten dieser Armee wollen nur eines: Die Soldaten dieses Landes, seiner Institutionen und seiner Bevölkerung zu sein, weil jeder Soldat dieser Armee Teil davon ist.

Und wir alle können der Bundeswehr dabei helfen. Indem wir ihr zeigen, dass wir sie in unserer Mitte brauchen und wünschen. Ich darf hier noch mal an meinen Gymnasiallehrer erinnern. Die Bundeswehr ist mit all ihren Fehlern die beste und sauberste Armee, die Deutschland je hatte. Sie ist unser aller Armee. Wir können sie formen. Wenn wir Bürger finden, es gibt in ihr zu viele Soldaten von der falschen Sorte, dann ist es an uns, dafür zu sorgen, dass mehr von der richtigen Sorte in ihr dienen. Retten wir Private Schmitz.

(Text ©Gregor Weber; Foto: privat)