Schleusung übers Mittelmeer: Libyens Küstenstädte verdienen um 300 Mio. Euro jährlich

20160818_eunavfor_med_schlauchboot

Am Schmuggel von Flüchtlingen und Migranten über die zentrale Mittelmeerroute verdienen allein die Einwohner von Küstenstädten Libyens geschätzt zwischen 275 und 325 Millionen Euro im Jahr. Der Menschenschmuggel auf dieser Route reiche aber weit über Libyen hinaus. Insgesamt hätten in den ersten neun Monaten dieses Jahres mehr als 333.400 Migranten das Mittelmeer auf dem Weg nach Europa gequert, davon mehr als die Hälfte zwischen Libyen und Italien –  und inzwischen liefen sogar 90 Prozent der Versuche, nach Europa zu gelangen, auf dieser Route. Das meldete der Kommandeur der EU-Marinemission EUNAVFOR MED vor der Küste Libyens, der italienische Konteradmiral Enrico Credendino, vergangene Woche in einem vertraulichen Bericht an den EU-Militärstab in Brüssel.

Der Admiral betonte zugleich, die Kriegsschiffe der EU-Mission Operation Sophia seien zwar in der Seenotrettung der Migranten aktiv, aber keineswegs ein zusätzlicher Anreiz für diese von Schleusern genutzte Route. Angesichts des dichten Schiffsverkehrs im zentralen Bereich des Mittelmeeres würden Schleuser auch ohne die Militärmission darauf setzen, dass die von ihnen auf See geschickten Migranten von anderen Schiffen gerettet würden. Die Existenz von Migration entlang der Zentralen Mittelmeerroute ist eine Realität, die so sicher und so effektiv wie möglich geregelt werden muss, schrieb der EU-Kommandeur.

Der Bericht liegt Augen geradeaus! vor.  Über Credendinos Rapport für den Zeitraum vom 1. Januar bis Ende Oktober dieses Jahres hatte zuerst Associated Press bereits am 1. Dezember berichtet; im deutschen Sprachraum scheint das allerdings bislang keinen Niederschlag gefunden zu haben.

Die Mission der EU-Seestreitkräfte, Operation Sophia, ist seit dem vergangenen Jahr im Raum vor der Küste Libyens aktiv, auch die Deutsche Marine ist dabei ständig mit Schiffen vertreten. Offiziell ist die Hauptaufgabe die Bekämpfung der Schleuserkriminalität, seit kurzem ergänzt um die Durchsetzung des UN-Waffenembargos gegen Libyen (dafür schiffte die Deutsche Marine eigens Kampfschwimmer ein) sowie die Ausbildung der libyschen Küstenwache. Die EU-Einheiten dürfen aber unverändert nur in internationalen Gewässern außerhalb des libyschen Territoriums operieren. Faktisch kümmern sich die Schiffe zu einem wesentlichen Teil um die Rettung von Migranten aus Seenot.

Mit seinem Bericht versucht der italienische Admiral offensichtlich, einen früheren Bericht des EU-Ausschusses im britischen Parlament zu entkräften. Das hatte im Mai erklärt:

Critics suggested that search and rescue activity by Operation Sophia would act as a magnet to migrants and ease the task of smugglers, who would only need their vessels to reach the high seas; these propositions have some validity. On the other hand, search and rescue are, in our view, vital humanitarian obligations. We commend Operation Sophia for its success in this task.
The mission does not, however, in any meaningful way deter the flow of migrants, disrupt the smugglers’ networks, or impede the business of people smuggling on the central Mediterranean route.

Dem hielt Credendino in seinem Bericht entgegen:

The presence of ENFM [European Naval Forces Mediterranean] has not contributed to increasing the flow of migrants as the “push factors” are in the countries of origin. The number of persons rescued by our assets accounts for only 13 percent of the total number of migrants rescued on the CMR [Central Mediterranean Route], which cannot be regarded as decisive in terms of a “pull factor”. Data also suggests that the CMR has remained largely steady over the years, and the route is characterised by heavy traffic of merchant ships and other vessels that are called upon by the Maritime Coordination Rescue Centres (MRCCs) to rescue other vessels in danger in compliance with international law. Given this density of maritime traffic in the CMR rescues would take place regardless of ENFM’s presence.
The existence of migration along the CMR is a reality that must be managed as safely and effectively as possible. Military units, such as ENFM ships, can operate even in challenging weather conditions, ensure a medical and health screening in order to contain
any pandemic risk in countries of arrival, security checks in order to report suspects to responsible authorities as well as whenever necessary provide security to ships belonging to NGOs, FRONTEX etc. ENFM also provides early maritime situational awareness to NGOs of emerging rescue tasks through its Maritime Patrol Aircraft capability.

Allerdings findet der Admiral auch kritische Worte für die Arbeit privater Rettungsorganisationen:

Up to as many as 26 NGO maritime assets have been registered on the high seas on the CMR. The migration flow is assessed to be affected by this increased presence of NGO’s that are ready to rescue migrants within the limit of, and sometimes inside, Libyan territorial waters. It could be argued that by operating so close to the Libyan territorial waters the NGO presence has allowed the smugglers to recover boats to the shore more easily for re-use and shorten the average rescues from 75nm to 35 and now 20nm from the Libyan shore.
A majority of boats no longer depart with Thuraya phones and therefore no longer make distress calls to the Maritime Rescue Coordination Centre (MRCC). This is believed to be because smugglers seem to be aware where they can reliably find rescuing assets
particularly from the NGO’s who broadcast their position via the Automatic Identification System (AIS).

Den Schleusern wird jedoch zunehmend ihre Gier zum Verhängnis: um zu verhindern, dass mit den – meist überladenen und nicht seetüchtigen – Schlauchbooten mit Migranten auch die Außenbordmotoren in die Hand der EU-Seestreitkräfte falen, seien die Schleuser inzwischen dazu übergegangen, als Fischer getarnt die verlassenen Boote wieder zurückzuschleppen. Dabei seien einige den Besatzungen der Kriegsschiffe in die Hände gefallen.

Terroristen insbesondere islamistischer Gruppierungen nutzen den lebensgefährlichen Seeweg nach Europa nicht, um in die EU-Länder zu gelangen, betonte der Admiral. Zumindest gebe es dafür keinerlei Belege. Andererseits profitieren Terrororganisationen wie Al-Kaida im islamischen Maghreb (AQIM) von den Schmuggelrouten, die lange etabliert seien:

The smuggling routes pass through the Sahel and arrive in Libya through Sabha in the southwest via hubs in Tamanrasset in Algeria and Agadez in Niger. These well-established smuggling routes are used northwards for human trafficking and narcotics and
southwards for weapons intended for fragile Central African and South American countries. Al Qaeda and AQIM, aligned with the Tuareg tribe in south-western Libya, are assessed to be financially exploiting these smuggling routes. The same north-south pattern is recognised in eastern Libya generally passing through Khartoum and Dongola in Sudan and then on to Kufra in south-eastern Libya. Along this route the Tebu tribe is the main profiteer. All smuggling routes converge in the Lampedusa triangle, with no migrant launches taking place from eastern Libya.

Langfristig erwartet Credendino nur langsame Fortschritte bei der Bekämpfung sowohl der Menschen- als auch der Waffenschmuggler: Die politische Instabilität Libyens lasse keine rasche Besserung erhoffen. Dennoch könne eine besser ausgebildete libysche Marine und Küstenwache, mit deren Training die EU-Einheiten bereits begonnen haben, die Tätigkeit der Kriminellen erschweren. Hilfreich, so betonte der Admiral, wäre aber auch die Möglichkeit für die EU-Kriegsschiffe, innerhalb der Küstengewässer Libyens zu operieren – und mehr Aufklärung und Information. Da erhoffe er aber Verbesserungen durch die Kooperation mit der NATO-Mittelmeermission Sea Guardian.

Aus Sicht der eingesetzten – auch deutschen – Soldaten ist auch interessant, dass trotz der zahlreichen Schiffe unter EU-Kommando bislang kein schwimmendes Hospital in dieser Mission verfügbar ist. Für eine Behandlung über die unmittelbare Notfallaufnahme hinaus müssen Verletzte und Verwundete zu einem Hospital der so genannten Role 2 an Land ausgeflogen werden: Entweder in den EU-Ländern Italien, Malta und Griechenland – oder in einem Vertragshospital in Tunesien oder Alexandra/Ägypten. Allerdings wurden laut Bericht die Möglichkeiten der Notfallbehandlung durch die Deutsche Marine ausgeweitet: Zusammen mit den Kampfschwimmern wurden an Bord des Tenders Main medizinische Kapazitäten für Notfallchirurgie stationiert. Denn die deutschen Spezialkräfte sollen verdächtige Schiffe auch gegen (gewaltsamen) Widerstand untersuchen können.

(Angesichts der oft emotionalen und nicht immer sachlichen Debattenbeiträge zu diesem Thema setze ich in diesem Eintrag alle Kommentare auf moderiert.)

(Archivbild August 2016: EUNAVFOR MED)