„Thermoskanne“ G36: BMVg sieht Absage ans Konstruktionsprinzip bestätigt

Nach dem Abschluss der Untersuchungen zu den Problemen des Sturmgewehrs G36 sieht das Verteidigungsministerium seine Ablehnung des Konstruktionsprinzips dieser Waffe bestätigt. In den vergangenen Jahren hatte das Ministerium aufgrund verschiedener Untersuchungen auf Treffprobleme mit der Waffe im heißgeschossenen Zustand verwiesen; im vergangenen Jahr sagte Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen, das Gewehr des Herstellers Heckler&Koch habe in seiner derzeitigen Konstruktion keine Zukunft in der Bundeswehr. Die Suche nach einer neuen Standardwaffe der Bundeswehr läuft.

In dieser Woche legte nun das Ministerium den Abgeordneten des Verteidigungsausschusses im Bundestag umfangreiche Daten zu den nunmehr endgültigen technischen Untersuchungen vor. Ein wesentliches Fazit der Arbeitsgruppe G36 in Nutzung (AG G36 iNu):

Nach Auffassung der AG G36 iNu ist die Waffe selbst eine wesentliche Ursache der festgestellten Präzisionseinschränkungen. (…)
• Bei schussinduzierter Erwärmung sorgt das Konstruktionsprinzip dafür, dass die Waffe spätestens nach Abgabe von 60 Schuss in schneller Folge heiß geschossen ist („Thermoskannen-Effekt“).
• Die hieraus resultierenden Präzisionseinschränkungen lassen sich durch Auswahl von Munition abmildern, allerdings nicht befriedigend abstellen.
• Bei wechselnden klimatischen Bedingungen ist die durch Wärmeausdehnung oder Feuchtigkeitseinlagerung hervorgerufene und sich auf die Visierlinie auswirkende Formänderung des Kunststoffgehäuses (inhomogene Wärmeausdehnung) für die Präzisionseinschränkungen verantwortlich.

Die Einschätzungen werden unter anderem von einem  277 Seiten starken Bericht des Ernst-Mach-Instituts der Fraunhofer-Gesellschaft untermauert. In der Bewertung insbesondere dieses technischen Werks erläutert die AG G36 iNu:

Das Konstruktionsprinzip einer Waffe hat erheblichen Anteil an der Präzision im heiß geschossenen Zustand. Das G36 kann aufgrund seines Kunststoffgehäuses die beim Schuss eingeleitete Wärme nicht in gleichem Maße abführen wie Vergleichswaffen aus Metall. Es erwärmt sich dadurch schneller und wird insgesamt heißer. Mit steigender Temperatur im System sinkt aber grundsätzlich die Treffwahrscheinlichkeit. Dies führt dazu, dass beim G36 eine Abnahme der Treffwahrscheinlichkeit bereits bei geringen Schusszahlen mit allen untersuchten Munitionssorten und –losen auftritt. Auch Vergleichswaffen neueren Konstruktionsstands mit gleichem Konstruktionsprinzip weisen diese Präzisions- einschränkungen auf.

Dabei, darauf legt der Bericht Wert, bringt eine Veränderung des Kunstoffes, aus dem das G36 zu großen Teilen besteht, keine Verbesserung:

Der Einfluss eines geänderten Kunststoffes lässt sich messtechnisch nicht diskriminieren. Aus den Kreuzversuchen mit anderen Waffenmodellen mit Kunststoffgehäuse kann jedoch geschlossen werden, dass bei prinzipieller Beibehaltung des Konstruktionsprinzips ein bloßer Werkstoffwechsel zu keiner grundlegenden Verbesserung des Präzisionsverhaltens führen kann.

Die Kunststoff-Konstruktion ist nicht nur bei heiß geschossener Waffe ein Problem. Den Untersuchungen zufolge ist dieses Konstruktionsprinzip auch für mangelnde Treffgenauigkeit bei heißer Umgebung verantwortlich:

Bei einer Änderung der Umgebungstemperatur um 30 °C sinkt die Treffwahrscheinlichkeit beim G36 in erheblichem Umfang. Die Präzisionsforderungen des Bedarfsträgers werden im gesamten untersuchten Temperaturband vom G36 nicht erfüllt. Der Effekt ist im Temperaturbereich +15 °C bis +45 °C am stärksten ausgeprägt.
Der Effekt ist auf die inhomogene Wärmeausdehnung des Kunststoffgehäuses des G36 und die Auslenkung der mit dem Gehäuse verbundenen Zieloptik zurückzuführen. Das Auswandern der Visierlinie von der Rohrseelenachse bewirkt eine Verlagerung des mittleren Treffpunktes. Die Munition hat auf diesen Effekt nahezu keinen Einfluss.
Die inhomogene Wärmeausdehnung wird im Wesentlichen bestimmt durch die asymmetrische Konstruktion der Waffe und durch das Fertigungsverfahren bedingte Inhomogenitäten im Werkstoff.
Diese Art der Präzisionseinschränkung ist bei Waffen mit Kunststoffgehäuse und daran befestigter Zieloptik besonders stark ausgeprägt (G36, aber auch ein Fabrikat eines anderen Herstellers). Waffen mit Metallgehäuse zeigen deutlich bessere Ergebnisse und bleiben häufig nur wenig unterhalb der Präzisionsforderungen.

Unterm Strich: Dass das G36 ausgemustert und durch ein anderes Modell ersetzt werden muss (das kann ja auch von Heckler&Koch sein, aber eben nicht aus Kunststoff), scheint aus Sicht des Ministeriums nunmehr endgültig bestätigt.

Die technischen Untersuchungen sind übrigens getrennt zu betrachten von dem Gerichtsverfahren, in dem sich die Herstellerfirma und das Ministerium derzeit darüber streiten, ob die Waffe einen Mangel hat. Da argumentiert Heckler&Koch, das Sturmgewehr entspreche den technischen Lieferbedingungen, die vor gut 20 Jahren zu Grunde lagen – also geliefert wie bestellt. Dem scheint derzeit auch das zuständige Landgericht Koblenz zuzuneigen. Das Ministerium allerdings pocht darauf, die Waffe habe einen Mangel – und will das nicht auf die Bestell-Daten verengt wissen:

Diese Betrachtungsweise lässt die vom Bundesministerium der Verteidigung vorgetragene Argumentation außer Acht, dass neben technischen Details auch die grundlegenden Eigenschaften, die ein Sturmgewehr durch Funktion und Definition haben sollte, vorhanden sein müssen. Die Treffwahrscheinlichkeit ist eines der zentralen Leistungsmerkmale eines Standardgewehrs der Bundeswehr.

schrieb der Parlamentarische Staatssekretär Markus Grübel den Abgeordneten. Diese Linie, kündigte er an, werde das Ministerium in diesem Rechtsstreit auch weiter vertreten.

(Archivbild: Transparentes Modell des G36 im Werksmuseum von Heckler&Koch)