Wochendzusammenfassung Kundus: Nach heftigen Kämpfen „kein Ort zum Leben“

Knapp eine Woche nach dem koordinierten Angriff der Taliban auf die nordafghanische Provinzstadt Kundus sieht die Bilanz düster aus: Auch wenn die afghanischen Sicherheitskräfte die Stadt, deutlich später als geplant, im Wesentlichen wieder unter Kontrolle haben, ist das öffentliche Leben offensichtlich weitgehend zum Erliegen gekommen. Ein Luftangriff auf das Krankenhaus der Organisation Ärzte ohne Grenzen, nach allen bisher bekannt gewordenen Einzelheiten von US-Luftstreitkräften, hat zudem die einzige funktionsfähige Klinik der Stadt zerstört. Zudem gibt es aus anderen Gebieten Nordafghanistans Meldungen von einem weiteren erfolgreichen Vorgehen der Aufständischen.

Aus einem Bericht von Reuters-Korrespondenten in Kundus:

Decomposing bodies littered the streets of Kunduz and food was running scarce on Sunday, six days after Afghan government forces backed up by U.S. air power launched an offensive to retake the northern Afghan city from Taliban fighters. „This city is no longer fit for living,“ said Sayed Mukhtar, the province’s public health director. (…)Reuters TV footage showed dead bodies lying amid debris and rubble in Kunduz, normally a sleepy provincial capital.

Die ohnehin problematische medizinische Versorgung von Zivilisten, die ins Kreuzfeuer der Auseinandersetzungen zwischen Taliban und afghanischer Armee und Polizei gerieten, wurde durch die Zerstörung des Hospitals von Ärzte ohne Grenzen weiter erschwert.  Nach Angaben der Organisation kamen bei dem Luftschlag am frühen Samstag morgen 22 Menschen ums Leben.

Die Umstände des Angriffes sind noch nicht geklärt. Die US-Truppen teilten mit, zur Unterstützung eigener Soldaten hätten Flugzeuge in die Auseinandersetzung eingegriffen. Nach Darstellung von Ärzte ohne Grenzen wurde das Hospital über eine Stunde lang mehrfach beschossen, obwohl sowohl den US-Streitkräften als auch den Afghanen die Koordinaten der Klinik mitgeteilt worden seien. Von afghanischer Seite hieß es, es hätten sich Aufständische auf dem Gelände des Hospitals verschanzt, was von Ärzte ohne Grenzen zurückgewiesen wurde.

Das medizinische Personal stellte seine Arbeit in Kundus nach diesem Angriff ein. (Die Schilderung des Angriffs von einer Krankenschwester hier;  mehr Informationen hier im Thread vom Samstag.)

Ein deutlich positiveres Bild der Situation in der Stadt zeichnet der afghanische Sender TOLO News:

Traumatized residents from the embattled city of Kunduz on Sunday expressed their gratitude at being able to slowly return to normal after having gone in to hiding for most of the week following the Taliban’s siege of the city on Monday. (…) However there is still unease on the streets as not only do the bodies of Taliban insurgents remain in the streets but the heavy presence of troops in the city is a stark reminder of what residents have survived. In addition, the bodies of civilians killed by insurgents are also still on the streets.

Die Angaben und Medienberichte bleiben also widersprüchlich – als einzige Konstante taucht auf, dass die Leichen der Gefechte in den Straßen liegen bleiben. Auch im Bericht von Al Jazeera, laut dem arabischen Nachrichtensender haben die Taliban wieder die Oberhand:

The Taliban has reportedly regained control of large parts of the northern city of Kunduz, after days of intense fighting against Afghan troops backed by US air strikes, Al Jazeera has learnt. Earlier on Sunday, government forces, which have been trying to take control of the city, said they had made gains, but those appear to have been shortlived. Al Jazeera’s Qais Azimy, reporting from Puli Khumri just south of Kunduz, said that at around 1200 GMT, Taliban fighters launched counter-attacks, driving back government forces from the areas, where they had earlier made gains.

Unterdessen deuteten mehrere Meldungen darauf hin, dass auch nach einer möglichen Befreiung von Kundus von den Aufständischen andere Bereiche in der Hand der Taliban bleiben – oder von ihnen bedroht werden:

Eine Beruhigung der Lage im Norden des Landes scheint damit nicht in Sicht.

Nachtrag: US-Verteidigungsminister Ashton Carter hatte sich bereits am Samstag in einer schriftlichen Erklärung zu dem Luftangriff geäußert; jetzt sicherte er zudem zu, dass bei einer transparenten Aufklärung auch mögliche Verantwortliche wenn nötig zur Rechenschaft gezogen werden sollten:


(Direktlink: https://youtu.be/Xgbz2x4vfZg)

Nachtrag 2: Es scheint afghanische Vorwürfe zu geben (die ich noch nicht gefunden habe, zum Beispiel zitiert die Washington Post den Gouverneur ), das Krankenhaus von Ärzte ohne Grenzen sei regelmäßig von Taliban für militärische Zwecke missbraucht worden (was auch immer eine solche Aussage bedeuten mag – wenn es nicht nur heißen soll: ihr habt auch Taliban behandelt). Darauf hat die Organisation scharf reagiert und spricht vom Eingeständnis eines Kriegsverbrechens:

Following an earlier statement Sunday morning reiterating MSF’s call for an independent investigation of the bombing of its hospital in Kunduz, MSF General Director Christopher Stokes released this additional statement on Sunday, in response to claims from Afghan officials that MSF’s hospital in Kunduz was routinely used by the Taliban for military purposes:
„MSF is disgusted by the recent statements coming from some Afghanistan government authorities justifying the attack on its hospital in Kunduz. These statements imply that Afghan and US forces working together decided to raze to the ground a fully functioning hospital with more than 180 staff and patients inside because they claim that members of the Taliban were present.
This amounts to an admission of a war crime. This utterly contradicts the initial attempts of the US government to minimize the attack as ‚collateral damage.‘
There can be no justification for this abhorrent attack on our hospital that resulted in the deaths of MSF staff as they worked and patients as they lay in their beds. MSF reiterates its demand for a full transparent and independent international investigation.“