Stolz und Ratlosigkeit im Mittelmeer

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Als Kapitän zur See Thorsten Mathesius seinen Lagevortrag für die Verteidigungsministerin, die mitgereisten Abgeordneten und die fast 40 Journalisten zum Einsatz der Deutschen Marine bei der Seenotrettung von Migranten im Mittelmeer beendet hat, stellt der SPD-Politiker Rainer Arnold die Frage, die die Schwierigkeiten ziemlich klar macht. Ob denn erkennbar sei, will der Verteidigungsexperte wissen, ob die für den Transport der Flüchtlinge übers Mittelmeer präparierten Boote eben solche Schlepperboote seien – oder eben die ganz normalen Fischer- und Transportboote, die es an der langen Küste Libyens zu Tausenden gibt? Genau das, antwortet Mathesius, Kommandeur des deutschen Kontingents der neuen EU-Militärmission EUNAVFOR MED, sei das große Problem: Unterscheiden kann das von außen keiner.

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Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen und ihre Begleitung waren am (gestrigen) 4. Juli nach Sizilien gereist, wo die beiden deutschen Schiffe des Mittelmeereinsatzes vor Catania auf Reede lagen. In erster Linie wollte sie sich über die Rettungsmission informieren, in der deutsche Kriegsschiffe in den vergangenen Monaten bald 6.000 Menschen in Seenot aufgenommen haben. Ausführlich schilderten ihr die Soldaten an Bord der Fregatte Schleswig-Holstein, die zusammen mit dem Tender Werra derzeit die deutsche Beteiligung stellt, die Prozedur für die Aufnahme der INGP, der „In Not geratenen Personen“, wie es im Bundeswehrjargon heißt.

Und das mit viel Stolz und Eifer. Die Soldaten haben engagiert ihr Schiff zu einem Rettungsschiff umgebaut, aber es bleibt ein Kriegsschiff, bringt es Mathesius auf den Punkt. Mit wem auch immer aus der Besatzung man redet – vom Gefreiten bis zum Stabsoffizier schildern alle offen die anstrengende Arbeit, über zehn und mehr Stunden Hunderte von Menschen von ihren seeuntüchtigen Holzkähnen oder Schlauchbooten geordnet an Bord der Schleswig-Holstein oder der Werra zu bringen. Unter glühender Sonne, immer im Schutzanzug aus Neopren oder Tyvek, um eine mögliche Übertragung von Krankheiten von vorherein zu verhindern. Denn die Flüchtlinge waren zuvor unter elendsten hygienischen Bedingungen unterwegs – und die sind auf ihrer vergleichsweise kurzen Seereise, die nur ein kleiner Teil ihrer oft monatelangen Odyssee ist, noch mal erschreckend schlimmer.

Fast beiläufig macht der Kommandeur des deutschen Kontingents das an einem Foto der Holzboote deutlich, von denen die deutschen Soldaten in den vergangenen Wochen Menschen aufgenommen haben. Schon auf den ersten Blick wirkt das Boot abenteuerlich überfüllt:

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Allerdings: Was Sie hier sehen, ist nur das oberste Deck, schildert Mathesius die Konstruktion der typischen libyschen Küstenboote. Darunter sind noch zwei Decks eingezogen – Menschen unter unbeschreiblichen Bedingungen praktisch gestapelt. An die 500 Flüchtlinge nimmt dann so ein Boot auf, mit strikter Hierarchie: Zuunterst diejenigen, die auch in der sozialen Hackordnung ganz unten stehen und am wenigsten für die Überfahrt bezahlen können, zum Beispiel Migranten aus Schwarzafrika. Zuoberst, an der frischen Luft, diejenigen, die mehr Geld auf den Tisch der Schleuser legen – zum Beispiel vergleichsweise wohlhabende Flüchtlinge aus Syrien und anderen arabischen Ländern. Eine Toilette gibt es an Bord ebensowenig wie Navigationssysteme. Außer, in der Regel, einem Kompass.

Alle diese Menschen gilt es an Bord der Fregatte oder des Tenders zu bringen, ohne dass Panik ausbricht, ohne dass unbedachte Handlungen die Soldaten oder die Flüchtlinge selbst in zusätzliche Gefahr bringen. So hat die Bundeswehr von den Italienern gelernt, ein Flüchtlingsboot immer gleichzeitig von zwei Seiten mit ihren Festrumpf-Schlauchbooten anzusteuern: Käme nur ein Boot von einer Seite, besteht die Gefahr, dass die Kräftigeren an Bord der seeuntüchtigen Nussschale auf diese Seite drängen und das Boot zum Kentern bringen.

Und auch wenn bislang tatsächlich nur Menschen an Bord genommen wurden, die ihre Flucht nach Europa fortsetzen wollen – ob nicht auch Personen mit anderen Absichten darunter sind, weiß vorher niemand. In den Schlauchbooten der Marine sitzen deshalb auch immer Soldaten des Seebataillons, bewaffnet mit Sturmgewehr G36 und Pistole, den Gefechtshelm auf dem Kopf. Und an Bord werden alle Aufgenommenen von Feldjägern oder den Spezialisten des Seebataillons durchsucht, ehe es zur – knappen – Registrierung und nötigenfalls medizinischen Behandlung geht.

Diese Art der Seenotrettung wird weitergehen, und das wohl auf unabsehbare Zeit. Auch wenn sich am Auftrag der Deutschen Marine im zentralen Mittelmeer zwischen Italien und Libyen seit einigen Tagen etwas geändert hat. Denn formal seit dem 22. Juni hat die EU-Militärmission EUNAVFOR MED begonnen, deren Ziel es langfristig sein soll, die Infrastruktur und die Arbeitsweise der Schlepperorganisation zu durchbrechen, die an dieser Art des illegalen Menschentransports prächtig verdienen.

Von einer Spielart der Organisierten Kriminalität spricht die Verteidigungsministerin, und die EU will diese Transportwege genau aus dieser Sicht unterbrechen. Bislang ist nur eine erste Phase dieser Militärmission gestartet, die sich auf die Aufklärung der Strukturen konzentriert. Spätere Phasen, die auch den Einsatz von Gewalt vorsehen, sind nur mit Zustimmung des UN-Sicherheitsrats und einer Zustimmung von Regierungsseite aus Libyen denkbar. Allerdings gibt es in dem Bürgerkriegsland noch nicht mal eine einheitliche Regierung.

Die Aufklärung der Phase eins läuft aber an, und das wird zwar nicht die Arbeit der Soldaten bei der Senenotrettung verändern (Der einfache Soldat wird’s kaum mitbekommen, sagt Kommandeur Mathesius), aber das Gewinnen und die Weitergabe von Informationen. Schon bisher hatten Spezialisten an Bord die Geretteten befragt, nicht nur wo sie herkommen, sondern auch über die Umstände und die Treffpunkte für ihre Einschiffung an der libyschen Küste. Namen, Telefonnummern, Kontakte, die Abläufe am Strand, die Einladeprozeduren.

Diese Daten fließen künftig in einen europäischen Informationspool, der dann vielleicht später für ein Vorgehen gegen die Schleuser genutzt wird. Auf der Schleswig-Holstein wie der Werra wurden dafür eigens Kommunikationssysteme installiert, die für den verschlüsselten Funkverkehr unter den EU-Einheiten gewährleisten sollen. Wir wollen vorrangig herausfinden, welche Netzwerke dahinter stecken, erläutert Mathesius. Aber das werden wir alleine nicht schaffen – Militär kann nur ein Teil dieser Aufgabe sein.

Mit anderen Worten: Zu der Rettung der Menschen, die die Schleuserorganisationen zynisch kalkulierend in Richtung von Schiffen wie der Schleswig-Holstein oder, ebenso einkalkuliert, in Richtung ihres nassen Todes schicken, haben die Europäer bislang keine Alternative.

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Ein Interview mit Kontingentführer Mathesius, die Pressekonferenz der Verteidigungsministerin an Bord der Schleswig-Holstein und die Rede der Ministerin an die Besatzung gibt es hier zum Nachhören; eine Fotosammlung mit mehr Bildern hier.

(Foto 1: Sprachenkarte für die Befragung von Geretteten an Bord der Schleswig-Holstein; Foto 2: Von der Leyen bei der Anfahrt zur Schleswig-Holstein; Foto 3: Bei Seegang rettet die Besatzung der Fregatte Schleswig-Holstein am 21.Juni 2015 rund 148 Kilometer nordwestlich von Tripolis 417 Männer, 63 Frauen und 42 Kinder aus einem Holzboot und bringt diese zum Hafen von Salern; Foto 4: Schleswig-Holstein, l., und Tender Werra auf Reede vor Catania – Foto 3 Bundeswehr/Achim Winkler; übrige Fotos Thomas Wiegold)