Der Bericht zum G36: Nur eingeschränkt einsatztauglich, aber ohne Alternative (mit Ergänzung)

Culvert check at Pol-e Khomri, Northern Afghanistan

Das Bundeswehr-Standardgewehr G36 ist nur bedingt einsatztauglich und sollte schnellstmöglich durch ein neues Modell ersetzt werden. Eine Neubeschaffung werde jedoch Jahre dauern, so dass die Truppe noch auf längere Zeit mit dem G36 ausgerüstet bleiben muss. Zu dieser Einschätzung kommen Experten aus den Streitkräften in einem Bericht zu Treffer- und Präzisionsproblemen bei dem Sturmgewehr, den das Verteidigungsministerium am (gestrigen) Freitagabend vorlegte. Zugleich heißt es in dem Bericht, die Waffe entspreche den Forderungen bei der Beschaffungsentscheidung 1993 und den Technischen Lieferbedingungen, die mit dem Hersteller Heckler&Koch vereinbart wurden.

Der Bericht war von Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen im vergangenen Jahr in Auftrag gegeben worden, nachdem bereits seit spätestens 2012 Trefferprobleme mit dem G36 im heißgeschossenen Zustand und in heißem Klima öffentlich bekannt geworden waren. Die Teilberichte, die von verschiedenen Institutionen dafür erstellt wurden, liegen Augen geradeaus! in Auszügen vor.

Das Planungsamt der Bundeswehr kommt in der zusammenfassenden Bewertung (Fähigkeitsbezogene taktisch-operative Bewertung des Bedarfsträgers der Untersuchungsergebnisse zum Sturmgewehr G36) zu dem Schluss, dass die technischen Untersuchungen eindeutig und zweifelsfrei bestätigt hätten, dass die Waffe G36 selbst eine wesentliche Ursache der festgestellten Präzisionseinschränkungen ist.

Das Fazit des Referats Wirkung, abgestimmt mit dem Amtschef des Planungsamtes:

In fordernden Gefechtssituationen ist das gezielte, präzise Bekämpfen eines Gegners nicht zuverlässig möglich. Die Waffe ist für den Einsatz nur eingeschränkt tauglich und daher nicht in vollem Umfang einsatzreif.

Aus taktisch-operativer Sicht ist daher eine erhebliche Fähigkeitslücke festzustellen, die im Sinne der Überlebens- und Durchhaltefähigkeit sowie der Wirksamkeit im Einsatz schnellstmöglich geschlossen werden muss.

Eine schnelle Lösung, also die Beschaffung einer neuen Waffe für die Truppe, ist allerdings weder aus Sicht des Planungsamtes noch aus Sicht des Projektleiters G36 beim Bundesamt für Ausrüstung, Informationstechnik und Nutzung der Bundeswehr (BAAINBw) möglich:

Eine kurzfristige materielle Lösung ist aufgrund der Notwendigkeit einer umfangreichen Vergleichserprobung sowie der Regularien des Vergaberechts nicht erreichbar. Insofern ist eine mehrjährige Übergangslösung unter Rückgriff auf die in der Bundeswehr eingeführten Waffen erforderlich. (…)
Sofern das G36 vollständig abgelöst werden muss, wird eine Zeitlinie von maximal 10 Jahren als realistisch angesehen.

heißt es in der Projektbezogenen Bewertung der Ergebnisse aus dem BAAINBw. Die Empfehlung des Projektleiters deshalb: Ministerium und Streitkräfte sollten zwar den Beschaffungsprozess beginnen, um die Fähigkeitslücken durch Präzisionseinbußen bei schussinduzierter Erwärmung und wechselnden klimatischen Bedingungen zu schließen. Dennoch würden kurzfristig andere Schritte nötig, unter anderem die – vergangenes Jahr zunächst gestoppte – weitere Beschaffung von G36-Gewehren. Aus den Empfehlungen:

– die Nutzungsdauer des G36 über 2016 hinaus zu verlängern, bis eine materielle Lösung zur Schließung der aufgezeigten Fähigkeitslücke verfügbar ist;

– für die notwendige weitere Nutzung des G36 im Einsatz die Einsatzgrundsätze anzupassen und durch verstärkte Nutzung eines Waffenmixes Reichweiten- und Präzisionseinschränkungen zu kompensieren.

– das G36 bis zur Verfügbarkeit einer materiellen Lösung zur Schließung der aufgezeigten Fähigkeitslücken auf Verlangen des Bedarfsträgers und unter Anlegung eines strengen Maßstabes weiterhin instandzuhalten und zu regenerieren und dazu

– den Beschaffungsvorbehalt für die Regeneration des G36 einschließlich der durch den Bedarfsträger geforderten Versionsanpassungen zum Fähigkeitsaufwuchs aufzuheben;

– im Einsatz ausschließlich Munition im Kaliber 5,56 mm x45 bereitzustellen, die die Effekte bei schussinduzierter Waffenerwärmung reduziert;

(Hervorhebung im Original)

Mit anderen Worten: Es gibt vorerst keine Alternative zum G36, trotz er erkannten Probleme und Einschränkungen. Dem stimmte auch das Planungsamt der Bundeswehr zu und empfahl die Weiternutzung des Systems G36 bis zur Umsetzung bzw. der Verfügbarkeitt einer materiellen Lösung. Allerdings könne in Teilbereichen kurzfristig Abhilfe geschaffen werden:

Prüfung einer kurzfristigen Beschaffung geeigneter Sturmgewehre mit geeigneter Munition als Interimslösung für die Bedarfe aktueller Einsätze

Geeignete Sturmgewehre, das geht aus den Untersuchungen hervor, gibt es durchaus – auch wenn in den Untersuchungsergebnissen keine Fabrikate oder Modelle genannt werden. Das G36 jedenfalls erfülle die Anforderungen an die Standardwaffe der Bundeswehr nicht, wie das Planungsamt in einer Zusammenstellung der technischen Ergebnisse auflistete:

Im Rahmen der Untersuchungen wurden signifikante Präzisionseinschränkungen beim System G36 sowohl bei schussindizierter Erwärmung als auch bei Umwelteinflüssen (z.B. Temperaturschwankungen/Luftfeuchtigkeit) festgestellt.

– Bei der Reihenuntersuchung sank die Treffwahrscheinlichkeit beim System G36 mit der Munition DM11 (Standardeinsatzmunition) kontinuierlich von im Mittel 91% (erstes Treffbild) über 53% (zweites Treffbild) bzw. 35% (drittes Treffbild) auf 22% (viertes Treffbild) ab. Für den Soldaten in der Gefechtssituation bedeutet das, dass nach dem Verschuss von zwei Magazinen (zweites Treffbild) nach der ersten Phase des Gefechts – Herstellen der Feuerüberlegenheit – die Waffe ein gezieltes Treffen des Gegners nicht mehr zuverlässig gewährleistet.

– Bei der Untersuchung zur Auswirkung von Umwelteinflüsen auf die Systemtemperatur (nicht schussinduziert) – Temperaturänderung von 30° C – sank die Treffwahrscheinlichkeit des Systems G36 im Mittel auf 30% ab. (…) Dieser Effekt ist insbesondere bei einer Temperaturänderung von +15°C auf +45°C ausgeprägt, hier fiel die Treffwahrscheinlichkeit im Mittel sogar auf 7% ab. Das bedeutet für den Soldaten im Einsatz, dass der Gegner selbst mit den ersten Schüssen nicht gezielt getroffen werden kann, sondern zunächst der neue Haltepunkt erkannt werden muss.

– Das Vergleichsschießen mit anderen Sturmgewehren (Arbeitspaket „Kreuzversuche“) hat gezeigt, dass (auch unabhängig von der Munition) deutlich bessere Ergebnisse sehr nahe an der geforderten Treffwahrscheinlichkeit von 90% technisch möglich sind. (…)

Die technischen Ergebnisse beruhen auf Untersuchungen eines Integrierten Expertenteams Kleinkaliber, in dem das Wehrwissenschaftliche Institut für Werk- und Betriebsstoffe der Bundeswehr (WeWiB), das Fraunhofer Ernst-Mach-Instititut und die Wehrtechnische Dienststelle (WTD) 91 zusammenarbeiteten. Nach dem zwischen den beteiligten Institutionen abgestimmten Bericht, der Teil des Berichtspakets für das Verteidigungsministerium ist, erfüllt das G36 sowohl bei schussinduzierter Erwärmung als auch bei geänderten äußeren klimatischen Bedingungen die Forderungen der Truppe nicht. Das gelte für alle Varianten des G36, die so genannten Konstruktionsstände (K-Stände), über die Jahre seit der Einführung 1996.

Allerdings spielt nach den Untersuchungen des Integrierten Expertenteams Kleinkaliber auch die Munition eine Rolle – jedoch nicht ausschlaggebend:

Ursächlich für die sinkende Treffwahrscheinlichkeit ist nicht eine der Komponenten, z.b. Munition oder Waffe, sondern das Gesamtsystem. Im System sind vier Faktoren hauptverantwortlich:

– Die eingesetzte Munition. Die mittlere Treffwahrscheinlichkeit (gemittelt über alle vier Treffbilder) differiert bei Verwendung der verschiedenen untersuchten Munitionssorten und -lose um teilweise mehr als 35 Prozentpunkte. Insgesamt erfüllt das G36 aber mit keiner der untersuchten Munitionen die Forderung des Bedarfsträgers/Nutzers, womit der Austausch der Munition in keinem Fall das Problem der Präzisionseinschränkungen hinreichend löst.

– Die Temperatur des Systems. Bei allen untersuchten Waffen sinkt mit zunehmender schussinduzierter Erwärmung des Systems die Treffwahrscheinlichkeit. Das G36 wird konstruktionsbedingt bei schussinduzierter Erwärmung innen deutlich heißer als Vergleichswaffen. dies führt dazu, dass eine Abnahme der Treffwahrscheinlichkeit beim G36 bereits bei geringen Schusszahlen mit allen untersuchten Munitionssorten und -losen auftritt.

– Das eingesetzte Waffenfabrikat und die jeweiligen unterschiedlichen K-Stände. Abhängig vom untersuchten Waffenfabrikat bzw. K-Stand sind Unterschiede in der mittleren Treffwahrscheinlichkeit von über 50 Prozentpunkten beim selben Munitionslos möglich. Ein untersuchtes Waffenfabrikat erfüllt im Gegensatz zum G36 die Forderungen des Bedarfsträgers/Nutzers. Dieses Waffenfabrikat hat somit gezeigt, dass die Forderungen bei schussinduzierter Erwärmung technisch erfüllbar sind.

– Die untersuchte Einzelwaffe innerhalb eines Fabrikats bzw. K-Standes: Bei allen untersuchten Waffensystemen zeigten sich Unterschiede in der mittleren Treffwahrscheinlichkeit abhängig von der genutzten Einzelwaffe innerhalb eines K-Standes bzw. Fabrikates bei Verwendung einer Munitionssorte bzw. eines Munitionsloses. Beim G36 machen die Unterschiede teilweise mehr als 30 Prozentpunkte differenz in der mittleren Treffwahrscheinlichkeit zwischen einzelnen Waffen des jeweiligen K-Standes aus. Eine systematische Abhängigkeit der Treffwahrscheinlichkeit der Einzelwaffen vom Produktionszeitpunkt war bei keiner der untersuchten G36-Versionen feststellbar.

Die Untersuchung von Effekten und Einflüssen auf das Waffensystem durch geänderte äußere klimatische Bedingungen erbrachte folgende Ergebnisse:

– Bei einer Temperaturänderung der Waffe bedingt durch geänderte Umgebungstemperaturen sinkt die Treffwahrscheinlichkeit mit dem G36 und der Standardgefechtsmunition der Bundeswehr in teilweise erheblichem Umfang. Die Forderungen des Bedarfsträgers/Nutzers werden im gesamten untersuchten Temperaturband vom G36 nicht erfüllt. Der Effekt ist im Bereich einer Änderung der Umgebungstemperatur von +15°C auf +45°C am stärksten ausgeprägt. Die dargestellten Auswirkungen sind unabhängig von der eingesetzten Munition. Die technische Realisierbarkeit der Forderungen des Bedarfsträgers wurde für den äußeren Temperatureinfluss durch die Vergleichswaffen nachgewiesen.

– Der Wechsel zwischen trockener und feuchter Umgebung führt beim G36 zu vergleichbaren Einschränkungen, wie eine Änderung der Umgebungstemperatur. Der Einfluss der Feuchtigkeit stellt sich allerdings deutlich langsamer ein, als der einer geänderten Umgebungstemperatur. Der Einfluss von geänderter Umgebungstemperatur und der Wechsel zwischen trockener und feuchter Umgebung sind bei allen untersuchten K-Ständen des G36 gleichermaßen ausgeprägt.

– Die inhomogene Erwärmung des G36, bedingt durch seitliche, an die Strahlungsintensität der Sonne angelegte Bestrahlung, bewirkt einen reversiblen Verzug des Waffengehäuses und damit eine Verlagerung der Rohrseelenachse zur Visierlinie und führt zu einer Treffpunktverlagerung.

Für die Zukunft scheint nach diesen (Teil)Berichten der Weg klar: Die Bundeswehr braucht ein neues Sturmgewehr, fraglich ist nur, wann sie es bekommt. Rückblickend ist die Beurteilung nicht ganz so einfach – denn seit der Einführung des G36 vor 20 Jahren haben sich offensichtlich die Anforderungen ein wenig geändert. Die aktuellen Bewertungskriterien:

Bedarfsträger und Nutzer fordern von einem System Sturmgewehr (Waffe, Zieleinrichtung, Munition), dass ein Ziel sowohl bei schussinduzierter Waffenerwärmung, als auch bei wechselnden klimatischen Bedingungen auf eine Entfernung von bis zu 300m bei hoher Treffwahrscheinlichkeit (90%) getroffen werden kann.

Ob das in den 1990er-Jahren auch schon so formuliert wurde? Der Hinweis vom Projektleiter G36 im BAAINBw:

Das Gewehr G36 wurde auf Grundlage der taktisch-technischen Forderungen (TTF) von 1993 im Jahr 1996 in die Bundeswehr eingeführt. Es wurde im Rahmen seiner Einführung durch den damaligen Bedarfsträger als forderungskonform bewertet (General der Infanterie mit der Erklärung der Truppenverwendbarkeit, bestätigt durch den General der Heeresrüstung).
Das G36 wurde anhand der Technischen Lieferbedingungen (TL) sowohl einer Typprüfung als auch einer Ablieferungsprüfung durch den Güteprüfdienst der Bundeswehr unterzogen und abgenommen. Es ist somit TL-konform.

(Aus dem Bericht des Integrierten Expertenteams Kleinkaliber habe ich die Ergebnisse zum Einfluss der Umgebungstemperatur nachgetragen.)

(Foto: Bundeswehrpatrouille mit G36 in Afghanistan – Timo Vogt/randbild.de)