Geld verbrennen in Afghanistan: Verschwindet die Armee?

Zur Überprüfung der immensen Summen, die die USA in Afghanistan ausgegeben haben, gibt es den Special Inspector General for Afghanistan Reconstruction (SIGAR), so eine Art Spezial-Rechnungshof für den Einsatz am Hindukusch. SIGAR forscht nach, was aus dem ausgegebenen Geld geworden ist, und fördert immer wieder Verschwendung und unsinnige Ausgaben zu Tage, zum Beispiel hier und hier (so einen Rechnungshof, der der Verwendung deutscher Steuergelder in Afghanistan im Detail nachgeht, würde man sich hierzulande auch bisweilen wünschen).

Über ihre Erkenntnisse berichtet die Prüfbehörde regelmäßig dem US-Congress. Im jüngsten SIGAR-Bericht gab’s allerdings eine merkwürdige Neuerung: Erstmals seit sechs Jahren erhielten die Prüfer keine öffentlich verwendbaren Daten über die afghanischen Sicherheitskräfte (Afghan National Security Forces, ANSF), also Armee und Polizei. Diese Daten wurden nämlich von den US-Streitkräften und er internationalen Resolute Support Mission (RSM), dem Nachfolger der ISAF-Mission, auf einmal als Verschlusssache eingestuft.

Aus dem aktuellen Bericht vom 30. Januar 2015:

After Six Years of Being Publicly Reported, ANSF Data Classified
Last quarter SIGAR expressed concern about ISAF’s decision to classify a key measure of ANSF capabilities, the executive summary of the Regional ANSF Status Report (RASR). This quarter the new NATO-led Resolute Support Mission (RSM) that has taken over from ISAF went much further, classifying additional data that SIGAR has been using in every quarterly report for the past six years to discuss the progress of the ANSF, the MOD, and the MOI.
Every quarter SIGAR sends out a request for data to U.S. implementing agencies in Afghanistan with a list of questions about their programs. This quarter SIGAR received its data call responses from USFOR-A in the usual unclassified format on December 29, 2014. Five days later, SIGAR received an email stating that RSM planned to retroactively classify many of the responses. On January 8, Special Inspector General Sopko requested that Resolute Support Commander General John F. Campbell have his staff review the classification of the responses to SIGAR’s data call.
On January 14, SIGAR was informed that its data call responses concerning ANSF strength, equipment, infrastructure, anticorruption measures and many other matters had been classified under NATO guidelines at the Secret, Confidential, or Restricted levels. On January 16, SIGAR received an update that three of those responses had been changed back to unclassified, leaving the vast majority classified.
The classification of this volume of data for SIGAR’s quarterly report is unprecedented. The decision leaves SIGAR for the first time in six years unable to publicly report on most of the U.S.-taxpayer-funded efforts to build, train, equip, and sustain the ANSF. On January 18, General Campbell wrote the Special Inspector General a memo explaining why information that had previously been unclassified was now being treated as classified.

Die Begründung von RSM-Kommandeur Campbell findet sich auf Seite 227 des Berichts. Kurz gefasst: Die Veröffentlichung der gewünschten Daten würde, auf ein mal, die Sicherheit der afghanischen (und amerikanischen) Soldaten und Polizisten gefährden – nachdem diese Daten über Jahre öffentlich verfügbar waren.

Dass die US-Streitkräfte (und übrigens auch die NATO) so plötzlich nicht mehr veröffentlicht wissen wollen, was mit dem Geld der internationalen Gemeinschaft zum Aufbau afghanischer Sicherheitskräfte gemacht wird, fiel kurz vor Veröffentlichung des Berichts auch der New York Times auf – und die fragte zu Recht, warum der (US-)Steuerzahler nicht wissen dürfe, was mit seinem Geld passiert:

The United States has spent about $65 billion to build Afghanistan’s army and police forces, and until this month the American-led coalition regularly shared details on how the money was being put to use and on the Afghan forces’ progress. But as of this month, ask a question as seemingly straightforward as the number of Afghan soldiers and police officers in uniform, and the military coalition offers a singularly unrevealing answer: The information is now considered classified. (…) The military command’s explanation for making the change is that such information could endanger American and Afghan lives, even though the data had been released every quarter over the past six years, and Afghan officials do not consider the information secret.

Selbst die Kosten für die Lese- und Schreibkurse der afghanischen Rekruten, klagte das Blatt, seien auf einmal geheim.

Nun ist das, auch wenn es bislang nur in den USA aufgefallen ist (weil es da ja diese Prüfbehörde gibt, ein Problem, was alle Resolute Support-Nationen angeht. Denn auch zum Beispiel Deutschland zahlt für den Aufbau der afghanischen Armee (Afghan National Army, ANA), über seine Beiträge zum ANA Trust Fund. Bis Ende 2014 hatte die Bundesregierung, so die offiziellen NATO-Zahlen, dafür 166 Millionen Euro zugesagt. Wie sie verwendet wurden und werden, wird auch der deutsche Steuerzahler vermutlich nicht erfahren.

Aber warum  wurden diese Informationen nach Jahren plötzlich eingestuft? Dafür gibt es eine mögliche Erklärung, der Gary Owen nachgegangen ist, ein Ex-Soldat, der jetzt als Entwicklungshelfer in Afghanistan arbeitet und das Blog Sunny in Kabul betreibt.

Die Erklärung steckt nach seiner Ansicht in einer sehr simplen Grafik:

ANA-Strength_2013-2014

Die rote Linie ist das angepeilte Ziel für die Stärke der afghanischen Armee. Die grüne Linie die tatsächliche Stärke.

Nun ist das Problem der Attrition, des unerlaubten Fernbleibens von der Truppe, bei der ANA kein unbekanntes oder gar neues Phänomen. Schon seit Jahren war immer wieder zu hören, dass die Antrittsstärke der Einheiten weit hinter der Sollstärke zurückbleibt. Dahinter steckt keineswegs immer Fahnenflucht. Oft genug, so erklären einem Landeskenner (auch aus der Bundeswehr), überziehen Soldaten ihren Urlaub, weil aus ihrer Sicht die Familie wichtiger ist als der Soldatenberuf. Oder weil die Verkehrsverbindungen zwischen Heimatort und Standort – oder Einsatzraum – unverändert schlecht sind. Aber auch: weil die Zahl der Gefallenen verdammt hoch ist.

Und die Attrition-Rate scheint deutlich zugenommen zu haben.

Die Probleme hatte Gary Owen bereits 2013 beschrieben, damals für das Afghanistan Analysts Network. Die Grafiken und Schlussfolgerungen, die er in dem Blogbeitrag What John Campbell Doesn’t Want You to Know About the Afghan Army zusammengetragen hat, basieren auf den bisherigen veröffentlichten Zahlen für die ANSF.

But what’s underlying that is the uncertainty the Afghan forces feel after only a few years of existence. They haven’t been around long enough to know what it means to fight on their own. For most of those years they had their hands held by the most powerful military in the world. And by holding hands I mean we brought death from above in the form of all the A-10s and the B-1s and the F-16s and all the exploding things in the air over Afghanistan.
The steep slope we’re seeing in ANA attrition means a few things:
Dead Afghans: they’re just flat out getting jacked up on the battlefield
Desertions: the ones that are still alive aren’t seeing the “win” in sticking around when their colleagues keep getting dead
No new recruits: you’re an Afghan “military aged male,” and seeing what’s happening with your friends that joined up? You’re giving serious thought to another career. Probably in Germany.

schreibt Owen. (Nachtrag: etwas weniger ausgeschmückt und damit für non native speakers etwas verständlicher hat Owen das noch mal für VICE aufgeschrieben: The Real Reason the US Military Is Suddenly So Secretive About Afghanistan)

Sein Fazit: Die afghanische Armee, die als wesentlicher Teil der Sicherheitsstruktur nach dem weitgehenden internationalen Truppen zum Ende des Jahres 2014 die Stabilität des Landes gewährleisten soll, wird zunehmend nicht mehr dazu in der Lage sein. Weil ihre Personalstärke immer mehr abnimmt. Und genau um das nicht publik werden zu lassen, halten RSM-Kommandeur Campbell und die Führung des NATO-Einsatzes die aktuellen Daten unter Verschluss.

Das bedarf natürlich noch weiterer Belege. Doch was einen als Beobachter des Afghanistan-Einsatzes zudem misstrauisch macht: Es ist ja nicht das erste Mal, dass die NATO-geführten Truppen am Hindukusch plötzlich ihre Statistiken unter Verschluss halten, weil die Ergebnisse nicht mehr passen. Das war schon mal Anfang 2013 so. Da musste, damals ISAF, seine Angaben zu angeblich zurückgegangenen Angriffen der Aufständischen nach oben korrigieren. Und beschloss dann einfach, dass es keine öffentliche Statistik mehr gibt.

Dabei wäre es doch auch aus deutscher Sicht sehr interessant, mal konkrete und aktuelle Zahlen zu bekommen. Wie steht es im Fortschrittsbericht Afghanistan 2014 der Bundesregierung:

In den ersten acht Monaten des Jahres 2014 sind die personellen Verluste mit rund 3.450 gefallenen Angehörigen der ANSF im Vergleich zu rund 3.650 Gefallenen im Vorjahreszeitraum um rund fünf Prozent nur leicht gesunken. Aufgrund fortlaufender Rekrutierung bleiben die ANSF regenerationsfähig.

Genau. Die Zahlen der fortlaufenden Rekrutierung hätten wir dann gerne mal. Wenn RSM die nicht rausrückt, dann vielleicht die Bundesregierung.

Nachtrag: Ich hab‘ mal ein paar Angaben aus früheren SIGAR-Berichten rausgesucht:

30. Oktober 2014:
ANA Attrition Challenges
Attrition continues to be a major challenge for the ANA. Between September 2013 and August 2014, more than 36,000 ANA personnel were dropped from ANA rolls.The ANA continues to suffer serious losses from fighting. Between March 2012 and August 2014, more than 2,850 ANA personnel were killed in action (KIA) and 14,600 were wounded inaction (WIA).

30. Juli 2014
Attrition has improved, but continues to be a challenge for the ANP as 32% of regional components are considered “developing,” meaning attrition in these units is 3% or more per month. That is a reduction since last quarter, when 45% of regional components were considered “developing.” (…)
Although the NTM-A said it met its goal to have 100,000 ANSF personnel (both ANA and ANP) functionally literate by December 2014, NTM-A is unable to confirm how many of those trained personnel are still in the
ANSF, based on the lack of personnel-tracking capabilities within the ANSF. This raises the question: was the intent of the goal to train 100,000 personnel or to have 100,000 functionally literate personnel in the ANSF? NTM-A estimated that “due to attrition less than 30% of the ANSF will be functionally literate [level 3 literacy] by the end of December 2014.

30. April 2014

Afghan Local Police (ALP)
As of March 15, 2014, the ALP comprised 26,647 personnel, all but 887 of which were fully trained, according to the NATO Special Operations Component Command-Afghanistan (NSOCC-A). The current goal is to have 30,000 personnel by the end of December 2014. (…)
According to NSOCC-A, between March 1, 2013, and February 28, 2014, the ALP had a retention rate of 84.9%. During that period, 572 ALP personnel quit their job, 226 were fired, 1,165 were undefined administrative losses, and 1,623 were other losses (also undefined). NSOCC-A reported that 1,144 — or about 4.8% of the force — were killed in action (KIA).

Und inzwischen wird in den USA auch hinterfragt, warum es die Zahlen nicht mehr gibt:

Why is more data on Afghanistan war being classified, former US commanders ask
Now former military commanders are speaking out against the move. They’re concerned that it will prevent Americans interested in tracking the progress of the nation’s longest conflict – from congressional staffers to active-duty troops and veterans – from accessing information that has been readily available for the past six years.

(Archvibild November 2010: DELARAM, Afghanistan–Afghan National Army soldiers conduct a patrol in western Afghanistan – ANA photo by Sergeant Fathe Noori via Resolute support Media auf Flickr unter CC-BY-Lizenz)