„Hochmobile und kampfstarke Reaktionskräfte“ für Afghanistan

Nach der ersten – na gut, bisschen flapsigen – Bemerkung zum heute vom Bundeskabinett verabschiedeten Fortschrittsbericht für Afghanistan und dem Entwurf des neuen deutschen ISAF-Mandats jetzt ein zweiter Blick.

Interessant ist beim Mandat ja, was sich ändert – und das ist zunächst die Zahl: Für die Beteiligung an ISAF in Afghanistan werden bis zu 4.900 Soldatinnen und Soldaten mit entsprechender Ausrüstung eingesetzt. Bislang lag die Zahl bei 5.350 einschließlich einer flexiblen Reserve von 350, die so nicht eingesetzt wurde. im Begründungs-Teil des Mandats heisst es dazu:

Als Folge des in 2011 Erreichten ist es mit Mandatsbeginn 2012 erstmals möglich, auch das deutsche militärische Engagement zurückzuführen. Die Personalobergrenze wird in diesem Mandat auf bis zu 4.900 Soldatinnen und Soldaten abgesenkt. Die „flexible Reserve“ entfällt. Darüber hinaus ist es das Ziel der Bundesregierung, zum Ende des Mandatszeitraums eine weitere Reduzierung auf bis zu 4.400 Soldatinnen und Soldaten vorzunehmen, soweit die Lage dies erlaubt und ohne dadurch unsere Truppen oder die  Nachhaltigkeit des Übergabeprozesses zu gefährden.
Der Einsatz der NATO-AWACS im Rahmen von ISAF hat sich bewährt und wird von den Militärbehörden der NATO auch weiterhin als erforderlich angesehen. Die bislang gesondert mandatierte Beteiligung deutschen Personals am Einsatz der NATO-AWACS im Rahmen von ISAF wird nun in das ISAF-Mandat integriert. Das einzusetzende Personal wird entsprechend auf die Personalobergrenze von 4.900 angerechnet.

Unterm Strich also, zunächst, keine massive Reduzierung – gerade genug, dass man es als Beginn des Abzugs verkaufen kann, wie es die kleinere Koalitionspartei und die Opposition fordern.  Interessant ist aber, was bei ISAF schon lange unter dem Begriff re-invest the transition dividend gefordert wird: Wo die Afghanen selbst die Sicherheitsverantwortung übernehmen, werden internationale Truppen abgezogen. Aber die sollen nicht nach Hause gehen, sondern in die Regionen, wo weiterhin eine massive militärische Präsenz erforderlich ist.

Für die Deutschen im ISAF-Regionalkommando Nord ist das offensichtlich am Westrand ihres Einsatzgebietes der Distrikt Ghormach. Der wurde von den Afghanen und dann auch von ISAF bereits vor drei Jahren (!) dem Regionalkommando Nord zugeschlagen, nur die Deutschen weigerten sich formal, das zu akzeptieren. Als Folge musste jeder Einsatz deutscher Soldaten und deutschen Materials in diesem Unruhedistrikt (und nicht Provinz, wie dpa meldet) einzeln vom Bundesminister der Verteidigung genehmigt werden – zuletzt die Erlaubnis für unbemannte Drohnen (!) vom Typ Heron, über Ghormach zu fliegen, dann die Genehmigung, ohne zeitaufwändige Erlaubnis aus Berlin auch deutsche CH-53-Hubschrauber für Truppentransporte in den Distrikt einzusetzen. Aus dem Begründungstext des Mandats:

Das Transitionskonzept sieht auch vor, dass Kräfte aus Gebieten, in denen sie aufgrund der fortschreitenden Übergabe der Sicherheitsverantwortung nicht mehr benötigt werden, teilweise in Gebieten eingesetzt werden, die bislang noch nicht die notwendigen Voraussetzungen für den Beginn der Transition erfüllen. Im deutschen Zuständigkeitsbereich, dem Regionalkommando Nord, wird dies in nächster Zeit u. a. die Provinz Faryab einschließlich des Distrikts Ghormach sein. Der Distrikt Ghormach gehörte ursprünglich zum Regionalkommando West und wurde 2008 von Präsident Karzai in Verwaltungs- und Sicherheitsfragen der Provinz Faryab – und damit faktisch dem Regionalkommando Nord – zugeordnet. Aufgrund der ursprünglichen Zugehörigkeit zum Regionalkommando West ist er bislang nicht als Einsatzgebiet der Bundeswehr im Mandatstext aufgeführt. Bisherige Einsätze der Bundeswehr dort wurden im Rahmen der im Mandat vorgesehenen Ausnahmeregelung auf Grundlage von Einzelfallgenehmigungen durch den Bundesminister der Verteidigung durchgeführt. Der Deutsche Bundestag wurde darüber regelmäßig informiert. Dies wird im neuen Bundestagsmandat geändert und die afghanische Verwaltungsentscheidung im Sinne der Mandatsklarheit nachvollzogen.

Das ist allerdings nur ein Ausschnitt der Aufgaben, die auch auf die deutschen Soldaten zukommen. Interessanter ist eine Passage, die sich weitgehend wortgleich sowohl in der Begründung für das neue ISAF-Mandat als auch im Fortschrittsbericht der Bundesregierung wiederfindet und einen Ausblick auf die erwartete Einsatzrealität des kommenden Jahres gibt:

Sicherheit in der Fläche muss zukünftig durch afghanische Kräfte gewährleistet werden. Dies gilt insbesondere in Räumen, die im Zuge gemeinsamer Operationen aus der Hand regierungsfeindlicher Kräften zurückgewonnen wurden. Neben der Unterstützung afghanischer Operationen mit ausgewählten Hochwertfähigkeiten wird ISAF mehr und mehr die Präsenz in der Fläche verringern und sich auf wenige leistungsfähige Stützpunkte konzentrieren. Eine militärische Wirkung in der Fläche wird nur noch kurzfristig und in Unterstützung ausgewählter afghanischer Operationen angestrebt. Die schrittweise Übergabe der Sicherheitsverantwortung bedeutet damit eine deutliche Abkehr vom bisherigen Anspruch der Präsenz in der Fläche. Wirkung wird langfristig, mit Ausnahme von Extremsituationen, nur noch mittelbar durch die Beratung und Anleitung afghanischer Verbände erzielt werden. Die Verfügbarkeit und die Wirksamkeit hoch mobiler und kampfstarker Reaktionskräfte zur Unterstützung im Bedarfsfall gewinnen damit in den kommenden Jahren erheblich an Bedeutung.

(Hervorhebung von mir, T.W.)

Das klingt, mit Verlaub, nicht nach weniger Kampf. Sondern nach mehr. Nach mehr kampfstarker Reserve, die bei Bedarf umhergeflogen wird. Mit anderen Worten: Vielleicht ein paar Soldaten weniger. Aber nicht weniger Krieg.