Heute vor zehn Jahren: Der Bundestag beschließt das ISAF-Mandat

Das Jubiläum scheint keiner so recht feiern würdigen zu wollen. Am Samstag, den 22. Dezember 2001, exakt heute vor zehn Jahren, fasste der Deutsche Bundestag den Beschluss, Deutschland und damit Soldaten der Bundeswehr an der internationalen Afghanistan-Unterstützungstruppe ISAF zu beteiligen. Die Entscheidung fiel mit einer sehr breiten Mehrheit im Parlament, 538 von 581 anwesenden Abgeordneten billigten die Mission am Hindukusch. (Die deutsche Beteiligung an der US-geführten Operation Enduring Freedom, die in Afghanistan den Einsatz deutscher Spezialkräfte vorsah, war schon zuvor beschlossen worden.)

Rückblickend muten die damaligen Überlegungen rührend an. Mehr als 5.000 Soldaten würden für ISAF nicht nötig sein, die Beschränkung auf Kabul und den Flughafen, die zeitliche Begrenzung auf zunächst sechs Monate. Und, so die Ansicht, eine Situation, in der der Frieden in Afghanistan wirklich näher gerückt ist.

Wenn Regierung und Parlamentarier im Dezember 2001 gewusst hätten, worauf sie sich einlassen – hätten sie dann auch so entschieden?

Zum Nachlesen, es lohnt sich nicht nur aus historischen Gründen, hier noch mal aus dem Plenarprotokoll die Rede des damaligen Bundeskanzlers Gerhard Schröder vor der Abstimmung:

Gerhard Schröder, Bundeskanzler:
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich habe eine Meldung der dpa von heute Morgen vor mir liegen. Es heißt dort: Kurz vor seiner Vereidigung hat der neue afghanische Übergangsregierungschef Hamid Karsai Afghanistan Frieden versprochen. Er wird zitiert: Ich möchte versprechen, dass ich Ihre und meine Aufgabe erfüllen will, Afghanistan Frieden zu bringen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Weiter: Wir respektieren die Frauen, die die Hälfte unseres Volkes ausmachen, und wir geben ihnen ihre Rechte. Das sind die Schlüsselsätze von Herrn Karsai, der heute in sein Amt eingeführt worden ist.

(Beifall im ganzen Hause – Bundesminister Rudolf Scharping nimmt auf der Regierungsbank Platz – Friedrich Merz [CDU/CSU]: Der Verteidigungsminister kommt gerade herein! – Zurufe von der CDU/CSU: Oh!)

Meine Damen und Herren, finden Sie nicht auch, dass die Situation ein bisschen ernster ist, als Sie sich gegenwärtig benehmen?

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS – Friedrich Merz [CDU/CSU]: Soll er doch pünktlich sein!)

Dass es in Afghanistaneine Übergangsregierung gibt, hat auch mit dem zu tun, was in Deutschland auf dem Bonner Petersberg stattfand. Das, worüber wir heute entscheiden, hat auch mit dieser erfolgreichen Konferenz zu tun. Wir entscheiden in einer Situation, in der der Frieden in Afghanistan wirklich näher gerückt ist.

(Bundesminister Joseph Fischer und Bundesministerin Renate Künast nehmen auf der Regierungsbank Platz – Michael Glos [CDU/CSU]: Halb elf ist eine schwierige Zeit! – Zurufe von der CDU/CSU: Oh! –Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Er kommt aus einer Sitzung! – Lothar Mark [SPD]: Ihr seid doch nicht im Bierzelt!)

Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters: Das Wort hat der Bundeskanzler.

Gerhard Schröder, Bundeskanzler: Es gehört für viele zu den bitteren Wahrheiten in dieser Zeit, dass der Frieden in Afghanistan nur durch Krieg näher gerückt ist. Es gehört zu den Lehren der jüngeren deutschen Geschichte, die wir alle miteinander erlebt haben, dass pseudoreligiös legitimierte und motivierte Gewalt durch demokratisch legitimierte Gegengewalt außer Kraft gesetzt und überwunden werden musste. Exakt das ist der Inhalt der Resolution 1368 der Vereinten Nationen. Ich finde, es ist auch richtig, in dieser Situation festzustellen, dass die Vereinten Nationen in den letzten Monaten eine wirklich beeindruckende Rolle gespielt haben.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Sie sind gestärkt worden. Das ist sicher Ergebnis des Willens der Völkergemeinschaft. Das ist aber auch und vor allem Ergebnis einer behutsamen, klugen, aber gleichwohl entschiedenen Politik des VN-Generalsekretärs Kofi Annan.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Im Deutschen Bundestag ist über die Frage, ob es verantwortbar sei, sich an den Kriegshandlungen zu beteiligen – in welcher Form auch immer –, wie nicht anders zu erwarten, sehr heftig gestritten worden. Es sind viele Argumente ausgetauscht worden. Zum Beispiel wurde gesagt, dass Krieg immer auch Unschuldige trifft. Das ist wahr. Aber das Problem, dem wir uns heute stellen müssen, ist: Die Abwesenheit von demokratisch legitimierter Gewalt hat viel, viel mehr Unschuldige getroffen, hat sie rechtlos gemacht, zumal Frauen und Mädchen. Dass diese Situation überwunden werden konnte, hat mit der von uns verantworteten Entscheidung zu tun. In erster Linie hat es natürlich mit den Entscheidungen, die in den Vereinigten  Staaten getroffen worden sind, dann aber auch mit der von uns gewährten Solidarität – nicht nur, aber auch in mi-
litärischen Fragen – zu tun.

Krieg trifft Unschuldige. Das ist keine Frage. Aber das Beispiel Afghanistan zeigt: Nur mithilfe militärischer Gewalt konnte verhindert werden, dass auch in Zukunft Unschuldige unendlich leiden müssen. Es hat weitere Argumente gegeben. Man hat gesagt, man dürfe zur Konfliktlösung nicht in erster Linie auf das Mittel der Gewalt setzen, auch wenn man es gebrauchen müsse. Wir haben das nicht getan. Während der kriegerischen Handlungen hat die Diplomatie, hat die Politik keineswegs geschwiegen. Das Beispiel der Petersberg-Kon-
ferenz zeigt vielmehr: Wir waren aktiv und sind es geblieben. Beides zusammen – die Bereitschaft, Gegengewalt einzusetzen, und die Absicht, dabei immer auch politische Lösungen im Auge zu haben und sie konsequent zu verfolgen – hat den Erfolg gebracht; jeder Aspekt einzeln für sich hätte ihn nicht gebracht. Auch das ist eine Lehre der Diskussion der letzten Monate.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

Die internationale Friedenstruppeist also die Konsequenz politisch entschiedenen Handelns. Sie ist die Konsequenz einer Solidarität, die ich – dabei bleibe ich – uneingeschränkt genannt habe, weil sie sich eben auch auf den Gebrauch militärischer Mittel bezog. Sie ist die Konsequenz dessen, was in den letzten Monaten an Möglichkeiten entwickelt und durchgesetzt worden ist. Weil das so ist, ist die Entscheidung, um die ich heute das ganze Haus bitten will, eine, die man in voller Verantwortung treffen kann. Ich denke, dass alle Punkte, die wir hinsichtlich des Mandats miteinander diskutiert haben, so weit erfüllt sind, dass sich ein Ja von jedem Einzelnen rechtfertigen lässt.
Was waren die Erwartungen? Unter uns war immer klar – ich habe das in den Gesprächen mit den Partei- und Fraktionsvorsitzenden immer deutlich gemacht –, dass wir ein robustes Mandat brauchen; also nicht eines nach Kapitel VI, sondern nach Kapitel VII der UN-Charta, weil nur auf dieser Basis ein angemessenes Maß an Eigensicherheit und Aufgabenerfüllung möglich ist. Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen hat dieser Position, die auch immer die Position unserer Partner war, zugestimmt. Es hat die Erwartung gegeben, dass das Mandat begrenzt sein müsse, was den Einsatzort angeht. Nicht zuletzt hat es diese Erwartung deshalb gegeben, weil wir vielfach erlebt haben, über welche Einsatzorte spekuliert worden ist.

(Michael Glos [CDU/CSU]: Von Herrn Scharping!)

Das Mandat, dem zuzustimmen ich Sie heute bitte, bezieht sich auf Kabul und Umgebung. „Umgebung“ meint in erster Linie den einzig brauchbaren Flughafen. Auch insoweit sind, denke ich, die Erwartungen vieler hier im Hohen Hause erfüllt worden. Es ist gefordert worden, das Mandat müsse zeitlich begrenzt werden. Auch das geschieht. Man kann darüber streiten, ob die sechs Monate eine zureichende Begrenzung sind. Aber das ist nun einmal Gegenstand des Sicherheitsratsbeschlusses gewesen. Ich denke, wir sollten jetzt keine abstrakten Diskussionen über die Frage führen, ob sechs Monate ausreichen oder nicht, sondern deutlich machen: Es handelt sich um ein von den Aufgaben her, vom Einsatzort her und von der Zeit her begrenztes Mandat.

Es ist vielfach diskutiert worden – auch in Afghanistan selbst, in der provisorischen Regierung –, wie groß diese internationale Truppe sein müsse. Da war von 1 000 Mann und von weit mehr die Rede. Mein Eindruck ist, dass jene maximal 5 000, die jetzt ins Auge gefasst sind, in der Lage sein werden, ihre Aufgabe so zu erfüllen, dass ihre eigene Sicherheit wie auch die Sicherheit bei der Aufgabenerfüllung gewährleistet werden kann.
In diesem Zusammenhang war in den Debatten hier immer die Frage auflerordentlich wichtig: Kann man die Aufgaben und die Führung der Friedenstruppe von den gebotenen weitergehenden Kriegshandlungen in Afghanistan trennen? Es gibt zwei Kommandostränge: einen, der nach wie vor die vorwiegend amerikanischen Einsätze organisiert und befehligt – also Centcom –, und einen anderen, davon unabhängigen, der sich auf die Friedenstruppe und ihre Aufgaben bezieht. Es gibt eine klare Trennung zwischen beiden, was in diesem Haus quer durch alle Parteien immer wieder gefordert worden ist. Das ist also erreicht worden. Dass es insbesondere für Gefahrensituationen, die nicht aus eigener Kraft beherrschbar sind, eine enge Zusammenarbeit geben muss, liegt auf der Hand. Auch das ist gewährleistet. Die Trennung ist also gewährleistet, aber Vorsorge für Gefahrensituationen ist gleichwohl getroffen worden. Auch insoweit – denke ich – ist die Entscheidung des Sicherheitsrates angemessen.
Was ist der deutsche Anteil? Im Antrag, der Ihnen vorliegt und dem zuzustimmen ich Sie bitte, ist von maximal 1 200 Einsatzkräften die Rede, wobei wir davon ausgehen, dass wir nicht unbedingt alle brauchen werden. Wir werden eher unter dieser Zahl bleiben, als dass wir sie erreichen.
Meine Damen und Herren, wir haben immer miteinander und über die Parteigrenzen hinweg diskutiert und gefordert, das, was wir dort tun müssen und tun wollen, zu europäisieren. Mir ist besonders wichtig, dass wir das in dem Rahmen, in dem es objektiv möglich ist, erreicht haben; jedenfalls haben wir uns dem  angenähert. Teil des deutschen Kontingents werden Einsatzkräfte aus den Niederlanden und aus Dänemarksein. Ganz weg sind die Erinnerungen an das vorige Jahrhundert mit seinen Kriegen ja noch nicht. Insofern glaube ich, dass es vor dem Hintergrund unserer gemeinsamen Geschichte in Europa ein wirklicher Erfolg ist – den man auch deutlich machen sollte –, dass deutsche, niederländische und dänische Truppen gemeinsam in einem fernen Land für Frieden sorgen. Das ist etwas, was wir nicht unterschätzen sollten.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Meine Bitte ist also, dass Sie, meine Damen und Herren, dem Antrag zustimmen. Ich verbinde das mit meinem ungeteilten Respekt, meiner Anerkennung und meinen guten Wünschen für diejenigen, die auf der Basis unserer demokratischen Entscheidung sehr bald in Afghanistan Dienst tun müssen. Es ist kein einfacher Dienst – wir wissen das wohl –, aber es ist ein verantwortbarer Dienst, der im Interesse der Menschen in unserem Land ist und den wir deswegen beschließen sollten, weil wir ihn beschließen müssen. Ich will das mit dem Dank an die Soldaten verbinden, die im Zusammenhang mit den Beschlüssen zu „Enduring Freedom“ oder auch auf dem Balkan ihren schweren Dienst tun. Sie tun das für uns alle. Deswegen gehört unser Respekt all denjenigen, die diesen schweren Dienst tun. In diesem Sinne bitte ich um Zustimmung. Herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BüNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Das Ergebnis der Abstimmung über den Mandats-Vorschlag der Bundesregierung nach der anschließenden Debatte: Abgegebene Stimmen 581. Mit Ja haben gestimmt 538, mit Nein haben gestimmt 35, Enthaltungen 8.

Das Thema wird zwar auch in den Medien aufgegriffen, zum Beispiel bei Spiegel Online: Zehn vertane Jahre. Doch es findet sich auch da beileibe nicht auf der Startseite…

Zum Zehnjährigen eine Hintergrund-Sendung des Deutschlandfunks von Rolf Clement: Verteidigung am Hindukusch in Afghanistan