Das Peter-Struck-Buch (1): Deutschland wird auch am Hindukusch verteidigt

Peter Struck war lange Jahre Vorsitzender der SPD-Fraktion im Deutschen Bundestag – und von 2002 bis 2005 Verteidigungsminister. Am (heutigen) Freitag stellt er seine politische Biographie, das Buch So läuft das vor – in dem seine Zeit an der Spitze des Wehr-Ressorts eine wichtige Rolle spielt.

Mit freundlicher Erlaubnis des Propyläen-Verlags (einer der Ullstein-Buchverlage)  veröffentlicht Augen geradeaus! Auszüge aus dem Buch:

Deutschland wird auch am Hindukusch verteidigt

Die Antwort auf Helmut Schmidts Frage, was deutsche Soldaten in dem 7000 Kilometer entfernten, uns so fremden Land sollten, beantwortete ich im Februar 2003, als der FAZ-Korrespondent Karl Feldmeyer mich auf einer Pressekonferenz fragte, ob die Neuausrichtung der Bundeswehr gerade vor dem Hintergrund des Afghanistan-Ein- satzes durch den Grundgesetzartikel 87a noch gedeckt sei oder ob ich eine Grundgesetzänderung plane. »Deutschland wird auch am Hindukusch verteidigt«, lautete meine knappe Antwort.

Peter Struck begrüßt bei seinem ersten Besuch im PRT Kundus die (örtlichen) Wachen. Das PRT war zunächst in der Innenstadt von Kundus untergebracht.

Dieser Satz, spontan auf einer Pressekonferenz zum Umbau der Bundeswehr formuliert, ist seitdem an mir hängen geblieben. Für die einen war er die pure Provokation, für die anderen eine Selbstverständlichkeit und die griffige Umschreibung der veränderten Sicherheitsbedürfnisse. Für mich war und ist er nicht mehr und nicht weniger als die Antwort auf die neue Bedrohung, die von Afghanistan ausging. Die Debatte, wie sie in Deutschland geführt wurde und noch immer geführt wird, ist teilweise auf fahrlässige Art losgelöst von den Ursachen, die das Afghanistan-Engagement des Westens erfordert haben.

Die Taliban hatten ihren Staat zerstört und Al Qaida Zuflucht für die Terroristenausbildung geboten. Von Afghanistan aus planten selbsternannte Gotteskrieger zerstörerische Angriffe auf die westliche Welt. In vielen Staaten kam es jenseits des spektakulärsten Angriffs vom 11. September zu furchtbaren Attentaten. Dass Deutschland davon bislang verschont geblieben ist, war – wie wir spätestens seit den gescheiterten Kofferbombenattentaten in Köln und Dortmund wissen – dem Glück und der hervorragenden Arbeit unseres Sicherheitsapparats zu danken. Eine Garantie auf Unversehrtheit ist das allerdings nicht.

Ich bin der tiefen Überzeugung, dass es dem Westen gelingen muss, den Terror im afghanischen Raum und in der pakistanischen Nachbarregion zu zerschlagen. Eine Niederlage würde für den islamistischen Terrorismus der Beweis dafür sein, die westlichen Staaten und deren Verteidigungsbündnis in die Knie gezwungen zu haben, und ihn zu weiteren Aktivitäten ermuntern. Jeder, der leichthin
davon spricht, dass die Bundeswehr sich schnellstens zurückziehen müsse, sollte wissen, dass dies genau das Ziel der Terroristen ist. Sie würden diesen Rückzug nicht als humanitären Erfolg für die Menschen in Afghanistan sehen, sondern als Sieg in einer Auseinandersetzung, die für sie ein Krieg sowohl gegen das afghanische Volk als auch gegen die westlichen Truppen ist.

Im Kampf gegen den internationalen Terrorismus ist der gesamte Westen in eine asymmetrische Bedrohung geraten. Asymmetrisch deshalb, weil Ländern wie den USA, Frankreich, Spanien oder Deutschland nicht gegnerische Staaten, sondern ein Netzwerk von internationalen Terroristen gegenübersteht, das sich an keine Regel und an keine UN-Vorgaben gebunden fühlt.

Immer öfter ist es beispielsweise vorgekommen, dass vor allem bei US-Angriffen auf die Taliban im Süden des Landes Zivilisten, Frauen und Kinder verletzt oder getötet wurden. Jede dieser Meldungen hat in Afghanistan, aber auch bei uns im Westen den Hass auf die amerikanische Kampfführung vergrößert. Dass Taliban und Al Qaida aber ganz bewusst Zivilisten als Geisel in ihre Stellungen genommen oder ihre Angriffsstellungen mit Hochzeitsgesellschaften umgeben haben, wurde nicht wahrgenommen oder aber verdrängt.

Die Terroristen wissen genau, dass die Akzeptanz der Angriffe in den westlichen Gesellschaften mit jedem zivilen Opfer geringer wird. Deswegen zwingen sie Zivilisten, sich um sie zu gruppieren. Das ist eine neue terroristische Qualität und die Umkehrung der Werte. War es bislang so, dass sich Terroristen bei ihrem Vorgehen mit mensch- lichen Schutzschilden umgaben, um das eigene Leben zu retten, so benutzt diese Generation der zu »Märtyrern« erzogenen Kämpfer Menschen bewusst dazu, mit ihnen ins Verderben gerissen zu werden. So wie für sie das eigene Leben im Kampf gegen die westlichen Demokratien nichts gilt, gilt ihnen auch das Leben ihrer Opfer nichts. Eine teuflische Kriegführung, bei der die Verantwortlichen der Terrornetzwerke zudem darauf setzen können, dass es ein schier unerschöpfliches Reservoir zum Sterben bereiter »Märtyrer« gibt. Wer sich einmal mit der Rekrutierung der Al-Qaida-Kämpfer beschäftigt hat, der gewinnt den Eindruck, dass für viele Islamisten in den arabischen Staaten dieser Einsatz als eine befreiende Selbstverständlichkeit gesehen wird.

Im Übrigen war und ist es nicht so, dass diesen Terroristen nicht nur das Leben der verhassten Ungläubigen des Westens nichts gilt. Mit dem Leben der eigenen Glaubens- genossen gehen sie mindestens genauso zynisch um. Bei ihren Attentaten sind bislang weit mehr Muslime als westliche Opfer umgekommen.

Für mich war also sehr früh klar, dass es dem Westen gelingen musste, die Terrorszene in Afghanistan und in den pakistanischen Grenzgebieten so zu schwächen, dass sie nicht wieder in die Lage kommen konnte, aus Afghanistan heraus Terror zu exportieren. Insofern war es für mich überhaupt keine Frage, dass der Bundeswehreinsatz in Kabul zur Verteidigung der freiheitlichen Demokratien und damit auch zur Verteidigung Deutschlands notwendig war.

Als ich diese Meinung aussprach, wusste ich natürlich, dass das ein Tabubruch im Verteidigungsverständnis der Bundesrepublik Deutschland war. Aber ich wusste auch, dass es angesichts der neuen Gefährdungen keine Beschränkung auf die klassische Territorialverteidigung mehr geben konnte.

Das galt in meinem Verständnis keineswegs nur für Afghanistan. »Das Einsatzgebiet der Bundeswehr«, so lautete meine nächste provokante These, »ist die ganze Welt.«
Das heißt nicht, dass wir jeder Bitte der UN nach militärischer Hilfe nachgeben müssen. Aber es bedeutet, dass es Regionen in der Welt gibt, für die wir gemeinsam mit den Europäern eine besondere Verantwortung haben. So halte ich es für einen Skandal, dass die Weltgemeinschaft dem Morden im Sudan seit Jahren nahezu tatenlos zusieht.
Als Verteidigungsminister bin ich von Menschenrechtsgruppen und von Teilen der Grünen immer wieder gedrängt worden, die Augen davor nicht zu verschließen. Aber ich wusste, dass es für einen so massiven, nur durch Kampftruppen zu führenden Einsatz in Deutschland keine Mehrheit geben würde. Darüber hinaus wäre er nur im NATO- oder EU-Verbund möglich gewesen, und bei unseren Partnern wäre er ebenso wenig durchsetzbar gewesen wie bei uns. Ich finde es jedoch vielsagend, dass die Bitte um Überprüfung militärischer Hilfe seinerzeit von gesellschaftlichen Gruppen an mich herangetragen wurde, die später wieder scheinheilig vor einer Rückkehr militärischer Optionen in die Politik warnten.

Die CDU/CSU, die zu großen Teilen meiner Interpretation der Landesverteidigung folgte, versuchte gleichzeitig die Debatte zu nutzen, um die Einsatzmöglichkeiten der Bun- deswehr im Innern auszuweiten. Plump setzte sie dem Satz von der Verteidigung am Hindukusch die Forderung entgegen: »Deutschland wird auch in Hindelang verteidigt.« Das war das durchsichtige Unterfangen, die Bundeswehr mit polizeilichen Aufgaben im Inland auszustatten – eine gebetsmühlenartig vorgebrachte Forderung der Konser- vativen, für die es im Bundestag zu keiner Zeit eine nötige Mehrheit gab und auch heute nicht gibt.